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Akrobat in Ankara

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Im Staat der 700 Generäle schlägt das politisch-militärische Karussell Kapriolen. Je turbulenter die Aktionen der türkischen Linken, je größer die Unsicherheit in den rasant wachsenden Städten, desto gefestigter scheint die Stellung des 47jährigen Türkenpremiers Süleyman Demirel. Vor genau einem Jahr erlitt der Wahlsieger des Jahres 1969 mit ganzen 46,5 Prozent der abgegebenen Stimmen eine überraschende Schlappe und trat kurzfristig zurück, heute dürfte der ehemalige Wasserwerksdirektor trotz oder vielleicht gerade wegen des zunehmenden Chaos im Inneren die Budgetabstimmung glimpflich überstehen.

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Im Staat der 700 Generäle schlägt das politisch-militärische Karussell Kapriolen. Je turbulenter die Aktionen der türkischen Linken, je größer die Unsicherheit in den rasant wachsenden Städten, desto gefestigter scheint die Stellung des 47jährigen Türkenpremiers Süleyman Demirel. Vor genau einem Jahr erlitt der Wahlsieger des Jahres 1969 mit ganzen 46,5 Prozent der abgegebenen Stimmen eine überraschende Schlappe und trat kurzfristig zurück, heute dürfte der ehemalige Wasserwerksdirektor trotz oder vielleicht gerade wegen des zunehmenden Chaos im Inneren die Budgetabstimmung glimpflich überstehen.

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In kaum einem Land mit demokratischer Verfassung (wobei die dominierende Rolle der Generalität diese einigermaßen verwässerte) könnte ein Ministerpräsident eineinhalb Jahre einer „traurigen Anarchie" (so Expremier und Oppositdcmsführer Ismet Inönü) überstehen. Doch der demagogisch begabte, redegewandte und nervenstarke Demirel überlebte eine gigantische Korruptionsaffäre, die seine Familie zur „zweitreichsten der Türkei" (der Farbillustrierten „Günaydin" zufolge) erhob, eine Abwertung der Türk-Lira um 66,66 Prozent, Dauerdemonstrationen von Studenten und Arbeitern (Höhepunkt: 50.000 Manifestanten im Juni in Istanbul, Ausnahmezustand), blutige Schlachten zwischen rechts- und linksradikalen Gruppen mit über 20 Toten allein im letzten Halbjahr, er überlebte auch einen empfindlichen Preisauftrieb, gekoppelt mit Lohnstopp und Steuererhöhungen, ein rapides Wachsen der Slums in den Großstädten, deren Bevölkerung sich in fünf Jahren in Istanbul und Ankara mehr als verdoppelte und in Izmir sogar vervierfachte, edn von 30 Generälen befürwortetes Memorandum dės Luftwaffenchefs Muhsin Batur, in dem die ,;Unfähigk©it" der Gerechtigkeitspartei sowie die „Faulheit" der Nationalversammlung verurteilt wurde, und schließlich die Absplitterung vtm 40 Abgeordneten der Regierungspartei und die Neubildung einer Fraktion durch die Dissidenten.

Dieses Paradebelspiei politischen Überlebensvermögens namens Demirel spekuliert heute sogar mit einer Festigung seiner Poslticm durch vorzeitige Neuwahlen. Er will nach wie vor „der Welt beweisen, daß man ein Land dem Fortschritt entgegenführen kann, ohne die Würde der Bürger zu verletzen", hält allerdings auch ein Eingreifen der Armee zum Schutz von „Regune und Republik" für möglich. Dabei gibt er sich als glühender Verfechter der Pressefreiheit, wenn es nicht gerade um die auflagenstarke „Günaydin" geht welche die finanziellen Machenschaften der Familie Demirel durchleuchtete.

Die wirtschaftliche Situation des Landes, in dem von Eddme bis Erzurum 95 Prozent der rund 40.000 Dörfer und damit etwa 70 Prozent aller Türken ohne Elektrizität hausen, hat trotz großer Zuwachsraten des Bruttonational-produktes (bis zu 11 Prozent im Jahr) für den Durchschndttsosmanen kaum Besserung gebracht. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen beläuft sich auf knapp über 9000 Schilling und rangiert damit noch weit hinter Portugal, dem „Armenhaus Europas’^ bie AuslänöerfedndHchkeit wächst, vor allem die Amerikafeindlichkeit. Amerikas Sechste Flotte wagt sich aus Angst vor Ausschreitungen nicht mehr in die Häfen des Bundesgenossen. Selbst das vom Bonner Außenminister Scheel im Auftrag der EWG mit sei-

nem türkischen Amtskollegen Cagla-yangil geschlossene Abkommen, das der Türkei binnen 22 Jahren die Zollunion mit der Gemeinschaft verschaffen soll, rief heftigen Widerstand in völlig heterogenen Kreisen hervor.

Dabei werden die Hilfeleistungen der Vereinigten Staaten für Kemal Atatürks Republik seit 1946 mit rund 150 Milliarden Schilling angegeben, während die Bundesrepublik seit 1956 etwa 18 Milliarden ScbiUing in das Land zwischen Bosporus und Ararat pumpte.

Denürels Rettung bildet nicht zuletzt die offenkundige Uneindgkeit vmd Unsidierhe’it innerhalb der mit Gehaltserhöhungen beschwichtigten Armeespitze, die davor zurückschreckt wieder Ereignisse wie am 27. Mai 1960 und damit eine Imitation des Beispiels, dias der Erbfeind Griechenland gab, heraufzubeschwören.

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