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„Eine unfaire Situation“

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FURCHE: Ihre von Mustafa Kemal Atatürk begründete Republikanische Volkspartei (RVP) wird neuerdings als sozialdemokratisch bezeichnet. Stimmen Sie mit dieser Definition überein?

ECEVIT: Obgleich wir selbst uns eine Partei der demokratischen Linken nennen, ist die Bezeichnung „sozialdemokratisch“ etwa im deutschen oder skandinavischen Sinn durchaus zutreffend. Prinzipiell vertreten wir nämlich die gleiche Linie wie die westeuropäischen sozialdemokratischen Parteien.

FURCHE: Wohl niemand außerhalb der Türkei versteht, warum es hier eine polltische Krise seit fünf Monaten gibt und keine parlamentarische Mehrheit für eine Regierung zustande zu bringen ist Könnten Sfte das als Vorsitzender der größten Partei,“' die bis zu dieser Krise die Hauptverantwortung trug, erklären?

ECEVIT: Ich glaube, daß ein Hauptgrund für die sehr lange Regierungskrise darin liegt, daß die Türkei sich in einer außergewöhnlich raschen gesellschaftlichen Wandlung befindet, mit der die meisten Parteien und Politiker nicht Schritt halten können. Folgerichtig sind bei uns die Ergebnisse einer Wahl sehr schnell überholt. Dafür ein Beispiel aus der jüngsten Zeit. Am 14. Oktober 1973 fanden die Parlamentswahlen statt, denen weniger als zwei Monate später im ganzen Land Gemeindewahlen folgten. Sie ergaben ein völlig neues Bild. So erzielte unsere Partei innerhalb dieser kurzen Frist einen sehr beträchtlichen Stimmenzuwachs. Folgerichtig sind wir an einer Neuwahl des Parlaments interessiert, die diesem politischen Stimmungswechsel gerecht wird. Genau umgekehrt reagieren die konservativen Parteien, denn sie befürchten, daß die RVP sehr viel mehr Sitze gewinnen wird als je zuvor.

FURCHE: Rechnen Sic mit einer absoluten Mehrheit?

ECEVIT: So etwas kann natürlich niemand genau voraussagen, aber ich glaube schon. Manche Beobachter meinen übrigens, daß wir nur wegen unserer Zypernpolitik günstigere Resultate zu erwarten hätten.

FURCHE: Gleich nach der Entscheidung des amerikanischen Kongresses, jegliche militärische Hilfe an die Türkei einzustellen, war Ihre Reaktion eine ausgesprochen harte. Sie erklärten sogar, daß es nun für Ihr Land schwierig sein werde, das Bündnis mit den Vereinigten Staaten als zuverlässigen Faktor seiner Sicherheit zu betrachten.

ECEVIT: Ich habe nichts zurückzunehmen. Vor allem sollte man keinesfalls von amerikanischer, sondern nur von gegenseitiger Hilfe sprechen. Sehen Sie, das Problem liegt doch so: Die Türkei hat bestimmte kollektive Verpflichtungen übernommen. Wie Ihnen bekannt ist, gibt es hier gewisse Einrichtungen der NATO und der Amerikaner, die unsere Sicherheitsrisken vergrößern. Wenn die Verbündeten ihren Anteil nicht beitragen, entsteht eine höchst unfaire Situation.

FURCHE: Gelegentlich werden Sie von Ihren Gegnern als Neu-tralist bezeichnet. Sind Sie für einen Austritt der Türkei aus dem Bündnis?

ECEVIT: Nein, soweit möchte ich nicht gehen. Allerdings muß die NATO angesichts des erhöhten Sicherheitsrisikos unseres Landes ihre Beziehungen,,: zum. Mitglttsässtaat Tüntes • *iB Ä ' überdenken. Falls der Fortfall der amerikanischen Hilfe nicht auf die eine oder andere Weise ausgeglichen wird, bleibt uns einfach nichts anderes übrig, als eben entsprechende Schutzmaßnahmen zu treffen. Aus der geo-politischen Perspektive nimmt die Türkei in der Welt eine solche Position ein, daß es für sie unmöglich ist, auch nur wenige Tage ein gewisses Sicherheitsvakuum zu riskieren.

FURCHE: Kürzlich behaupteten Sie, daß die Griechen erstklassige Propagandisten seien und sowohl den amerikanischen Kongreß wie die öffentliche Meinung in Europa maßgeblich beeinflußten.

ECEVIT: Es ist ganz offenkundig, daß die griechische Lobby einen großen Einfluß auf den amerikanischen Kongreß ausübt. Gerade das kompliziert unsere Beziehungen zu den Vereinigten Staaten. Gemeinhin werden sie doch zwischen zwei Ländern von deren Regierungen wahrgenommen. Aber wir wissen nicht, wer in Amerika die Außenpolitik lenkt — der Kongreß oder die Regierung. Wenn beide miteinander übereinstimmen — ausgezeichnet. Aber wenn das nicht der Fall ist, dann stellt das die Länder, die mit den Vereinigten Staaten enge Beziehungen unterhalten, vor große Probleme.

FURCHE: Aber Mr. Kissinger gilt doch als Freund der Türkei?

■ECEVIT: Wie ich durch meine engen Kontakte mit ihm herausfand, ist Mr. Kissinger eine sehr realistische Persönlichkeit und bezog in dem Konflikt keine Stellung. Zwar versuchten er und seine Kollegen, uns mit allen nur möglichen Mitteln von einer Zypernaktion zurückzuhalten. Als ihnen das nicht glückte, schätzten sie die Situation richtig ein und paßten sich ihr pragmatisch an.

Mit Bulent Ecevit sprach FURCHE-Korrespondent Alfred Fischer.

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