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Der liberale Gegenschlag

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Es ist nicht Aufgabe dieses Kommentars, die oft verwirrenden Zusammenhänge von Watergate nachzuziehen. Es soll auch hier nicht über den Ausgang spekuliert werden. Wenn in den USA Emotionen ihren Lauf nehmen, ist es unmöglich, vorauszusagen, was passieren wird.

Was jedoch wichtiger erscheint, ist eine Ausleuchtung des Hintergrundes, der Mentalität, der Kräfte am Werk und der möglichen Auswirkungen auf die USA und die freie Welt.

Zum Verständnis der Situation muß zunächst einmal die grund-

verschiedene Einstellung Europas ind Amerikas zur Demokratie untersucht werden. Die Mehrzahl der Europäer sieht in einem demokratischen System, gemäß dem berühmten Churchill-Zitat, eine sehr unvollkommene, empirisch gewachsene Regierungsform, aber doch eine, die lern Individuum ein Maximum an Freiheit und Mitsprache einräumt. Da man in Europa das Funktionieren riner Demokratie von vornherein mit einer gewissen Skepsis verfolgt, limmt man die „Ausrutscher“ nicht so tragisch und betrachtet sie häu-1g als einen bedauerlichen Bestanden des Systems. Dieser Realismus st an sich ein Element der Stärke, wenn er nicht gerade als Ausrede iür eine Folge von Versagern verwendet wird.

Nicht so in den Vereinigten Staaten. Hier steht die Demokratie an der Wiege dieses einen Kontinent um-ipannenden Staates; und wiewohl lie Ausrottung der Indianer dem Amerikaner eine Portion heilsamer Skepsis und Zynismus mitgegeben naben sollte, ist für ihn Demokratie loch noch immer eine Form von Re-igion. Demokratie war das Asyl für lie meisten Flüchtlinge aus Europa, /on jenen ersten, welche die Union rundeten, weil sie nicht unter dem europäischen Feudalismus leben wollten, bis zu den echten Opfern ler Hitler-Verfolgung und der sowjetischen Unterdrückung. Selbst jene, die vor materieller Not in die Staaten flüchten, bezichtigen den Mangel an Demokratie in Europa als Ursache allen Übels.

Es ist daher nicht unverständlich, daß in diesem Land materielle Korruption und Gewaltverbrechen zwar jetzt mit wachsender Entrüstung bedacht werden, daß aber nur die geringste Verschiebung im demokratischen System der Kontrollen und Gleichgewichte — insbesondere zugunsten des Präsidenten — als „faschistoide Entwicklung angeprangert wird, auf die jene Kreise, die direkt oder indirekt unter den europäischen Diktaturen gelitten haben, besonders allergisch reagieren.

Die so denken, sind in der Presse und in den anderen Publizitätsmedien besonders stark vertreten. Sie zeigten Nixon gegenüber schon immer eine Mischung von Skepsis und Animosität, seit er in seinen ersten Wahlkämpfen „liberale“ Gegner mit etwas robusten Methoden besiegte

und vor allem, seit er sich mit seinen Enthüllungen der prosowjetischen Machinationen des Diplomaten Alger Hiss ideologisch eindeutig auf der Rechten verankerte. Daß sich ein starker Präsident, wie es Nixon bis Watergate war, eine Benachteiligung durch die Presse nicht würde gefallen lassen, war klar. Der rechtspro-fllierte Vizepräsident Agnew wurde daher auf die Presse angesetzt, und nach einigen knorrigen Angriffen, mit denen es ihm gelang, die breiten Massen (die „silent majority“) von seinem Standpunkt zu überzeugen, wurde ein Gleichgewicht in der Berichterstattung hergestellt. Schließ-

lich empfand auch die dem Präsidenten gegenüber in zunehmendem Maße freundlich eingestellte Leserund Hörerschaft die „Inkongruenz'1 vieler Fernsehkommentatoren. Für die „Liberalen“ war es jedoch ein Eingriff in die Pressefreiheit, ein „faschistoider Übergriff“, jedenfalls einer, der nicht sobald vergessen und begraben wurde. Es verwundert daher nicht, wenn die Watergate-Enthüllungen, die unzählbaren Geschichten, Kommentare, Insinuationen aus zweiter und dritter Hand, und zuletzt auch die unverhüllten Aufforderungen, Nixon möge zu-

rücktreten, vor allem von einigen „liberal“ orientierten Presseorganen — insbesondere von der „Washington Post“ und von der „New York Times“ — getragen werden. Demgegenüber verhält sich eigentlich die demokratische Oppositon still und zurückhaltend.

Erstens profitiert sie ja automatisch von den Unbillen Nixons und seiner Partei, und zweitens weiß man natürlich nicht, was da noch alles herauskommen kann. So ist der Aussage des Watergate-„Einbre-chers“ McCord vor dem Senatsuntersuchungsausschuß zu entnehmen, daß es offenbar Querverbindungen zwischen dem McGovern-Hauptquartier und radikalen Demonstrationsgruppen gab, die zweimal mehr als eine halbe Million Protestierende gegen die Vietnampolitik des Präsidenten nach Washington brachten, und daß McCord, der für die Sicherheit von Einrichtungen der Republikanischen Partei verantwortlich zeichnete, um das Hauptquartier und die Konvention in Miami besorgt war. Interessanterweise haben sowohl die „New York Times'“ als auch die übrigen Medien dieses Seitenmotiv für den Einbruch bis jetzt unauffällig und diskret behandelt. Dafür haben sie sich in einer gewissen Selbstbeweihräucherung den Pu-litzer-Preis für die “Verdienste um die Enthüllungen zugesprochen.

Angesichts dieses nicht unverständlichen Übereifers gewisser Presse-und Publizitätsorg'ane hat selbst ein ultraliberaler Senator wie Proxmire von Minnesota von McCarthy-Methoden gegen Wehrlose gesprochen, und muß man die Einleitung regulärer Verfahren zur Trennung von Fakten und tendenziöser Berichterstattung begrüßen.

Aber auch hier überschlägt sich alles, verwirrt, statt sich zu klären. So muß man auseinanderhalten, daß das Senatshearing unter Senator Irving, das bis in die Sommermonate tagen wird, jegliche Mitteilung von Zeugen registriert, egal, ob sie Fakten oder Äußerungen zweiter und dritter Hand enthält. Dieses Hearing soll dem Senat an sich Unterlagen für neue Gesetzgebung liefern, ist aber in Wirklichkeit der eigentliche Schauprozeß. Die Mitglieder sind vier Demokraten und zwei Republi-

kaner, der Vorsitzende Ervin ein Demokrat; sie sind alle Juristen.

Daneben laufen unzählige Gerichtsverfahren — vor der Grand Jury zur Ermittlung des Anklagetatbestandes, vor Gerichten zur Ermittlung der Schuldlage. Denn zum Verständnis der Situation muß gesagt werden, daß Watergate nicht mehr bloß eine politische Einbruchsaffäre ist, sondern ein Konglomerat von Anklagen gegen verschiedenste Übergriffe mit politischer Motivierung.

Die magische Heilsformel, auf die sich alle geeinigt zu haben scheinen, heißt: „Der Sache auf den Grund gehen.“ Dieser Formel hat sich der Präsident verschrieben, als er der Nation im Fernsehen versprach, die Schuldigen zu bestrafen, aber auch die Presse, die den Angriff vortrug, die politischen Parteien, die einen von der Regierung unabhängigen Ankläger bestellt haben, und vermutlich die Mehrheit der öffentlichen Meinung, die in einen Status von Hysterie versetzt wurde. Nur daß alle, von diesem „auf den Grund kommen“ etwas anderes erwarten und daher die Gefahr einer Selbst-zerfleischung, zumindest aber einer akuten Schwächung besteht. Denn, wie eingangs erwähnt, besteht bei den sogenannten „liberalen“ oder freiheitlich gesinnten Kreisen ein Hang zur Seibetaufgabe um den Preis der Reinhaltung demokratischer Einrichtungen. Die Loyalität dieser modernen Bilderstürmer gilt weniger der Nation als dem demokratischen System — ein wesentlicher Faktor, der die Bemühungen des Präsidenten, den Vietnamkrieg zu beenden, beeinträchtigst hat. Das „right or wrong, my country“ des empirisch eingestellten Großbritannien ist ihnen fremd, obwohl immei klarer wird, daß sich die Einrichtungen der Demokratie bei ihrer Auseinandersetzung mit dem Totalita-rismus — ob im Kalten Krieg oder im friedlichen Konkurrenzkampf — oft als unzulänglich erwiesen haben.

Dem „auf den Grund kommen“, dem Purgatorium der Demokratie, steht daher die Notwendigkeit praktischer Vernunft entgegen, die im Augenblick nirgends zu finden ist. Was diesem Land heute fehlt, ist ein weiser alter Pragmatiker, der die

demokratischen Hitzköpfe aus dem Reich der idealistischen oder weniger idealistischen Verstiegenheit in das der Wirklichkeit holt, in dem ungezählte lebensgefährliche Konflikte drohen, die momentan von einem Präsidenten ausgekämpft werden sollen, dem Hände und Füße gebunden sind. Ein Teil der Gegner will ihn in diesem gefesselten Zustand halten, teils, um das verlorengegangene Terrain wieder aufzuholen und um Nixon einen Denkzettel zu erteilen. Die anderen wollen ihn beseitigen, obwohl beide zugeben, daß bis jetzt noch kein Belastungsmaterial gegen ihn vorliegt, das ausreichen würde, um ihn zu „impeachen“. (Ein eigenes Kongreßverfahren, um den Präsidenten abzusetzen.) Ein Mißtrauensvotum des Parlaments wie in europäischen Demokratien gibt es nicht. Eine freiwillige Resignation entspricht nicht dem Charakter dieses stahlharten, kämpferisch veranlagten Mannes.

Befürchtungen, er werde in seinen Verhandlungen mit Breschnew zu nachgiebig sein, es fehle ihm an Autorität, um die Wirtschaftsverhandlungen mit dem Gemeinsamen Markt erfolgreich zu führen, und an Prestige, um sich gegen den zu ausgabenfreundlichen Kongreß durchzusetzen, haben sich bereits in anhaltende Börsenschwäche umgesetzt und könnten eine neue Dollarschwemme heraufbeschwören. Reformvorschläge des Präsidenten, das Amt auf eine bloß einmalige, aber sechsjährige Dauer einzurichten, werden kaum die notwendige Resonanz finden, vielmehr dürfte Watergate zu einer prinzipiellen Schwächung der amerikanischen Präsidentschaft führen. Ebenso schädlich könnten sich die Anstrengungen „liberaler“ Kreise auswirken, den Geheimdienst (CIA) und den inneren Sicherheitsdienst (FBI) „strikter demokratischer Kontrolle“ zu unterwerfen. Beide Einrichtungen waren irgendwie in Abhöroperationen verwickelt, wie wohl auch nicht jede Abhöroperation innenpolitischen Zielen diente.

So gesehen, ist Watergate nicht bloß ein Verstoß gegen die Demokratie, sondern, infolge der blinden Wut der sich zu Rettern der Republik aufschwingenden kompetenten und inkompetenten Kräfte, ein schwerer Eingriff in die Weltmachtposition der Vereinigten Staaten und eine Schwächung der freien Welt. Denn die Weltmachtstellung der USA hängt nicht bloß von Waffen, Soldaten, industriellen und wirtschaftlichen Werten ab, sondern im wesentlichen von der Reife jener, die dieses Land bevölkern.

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