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Ein nationales Gesellschaftsspiel

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Das Kalenderjahr 1972 wurde in (teils mit Ausrufe-, teils mit Fragezeichen endenden) Vorblicken von vielen US-Kolumnisten ein „Jahr der Entscheidung“ genannt.

Bis jetzt behielten sie recht. Dieses Jahr wurde bisher wirklich zu einem Jahr der Entscheidung. Und man ist vielleicht — von der heutigen Situation der Vereinigten Staaten ausgehend — berechtigt, Entscheidungen zu erwarten. Sie lauten ganz einfach: Sieg des Realitätsbewußtseins über die Ideologie. Wenn Nixon nach China ging und nach Moskau gehen wird, vielleicht auch Kontakte mit Kuba nicht ablehnt, so heißt das: „Les temps changent et nous changeons avec eux.“ Das ist positiv. Aber bevor man, psychologisch gesehen, das als Impuls für eine geistige Neuorientierung der USA akzeptiert, muß man wohl bedenken — und das hat ein gut Teil mit der bevorstehenden Präsidentenwahl zu tun —, daß mit dieser (zynischen oder staatsmännischen?) Wendung automatisch im Lande selbst eine Vertrauenskrise entstand. Von niemand anderem als Nixon erwartete man einen Kreuzzug gegen den Weltkommunismus. Nicht nur die zahlenmäßig belanglose „radikale Rechte“ ist empört. Die gemäßigt konservativen Gruppen sind, ebenso wie weite liberale Kreise, zumindest verwirrt: hat der Präsident aus taktischen (vielleicht wahltaktischen) Gründen sich plötzlich einen ,,liberalen Mantel“ umgehängt?

Es ist ungerecht, Nixon des Verrats an alten Uberzeugungen zu zeihen. Er hat nichts verraten. Er war nie ein Ideologe. Er ging mit den Antikommunisten. Er sieht heute, daß das nicht ausreicht und optiert neu, weil er spürt, daß die Nation dessen müde ist. Man mag das Opportunismus nennen, aber auch staatsmännische Klugheit: Nixon ist Realist.

Wird das amerikanische Volk die Wendung fort von der Ideologie honorieren oder in dem — teilweise mit bewußtem Geheimnis umwölkten — Meinungswandel ein Zeichen dafür sehen, daß man Nixon „nicht trauen kann“? Schwer, dies vorauszusehen, denn die Ideologiendämmerung blieb auch bei den Demokraten nicht ohne Folgen. Die Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg hat deutlich an einem Resonanzverlust in der öffentlichen Meinung zu leiden. Mütter, Frauen, Töchter der aus Vietnam heimkehrenden GI's fühlen, daß der Präsident sein Versprechen einlöst, den Krieg zu beenden.

So stellen in diesen Monaten die Demokraten, die außenpolitisch sich letztlich nur darüber beklagen könnten, daß Nixon ihre Parolen „gestohlen“ habe (Gespräch statt der Konfrontation mit den Feinden), sich ihrerseits realistisch auf die praktischen Fragen der viele uneingelöste Versprechen enthaltenden Innenpolitik, vor allem auf soziale Sorgen des Durchschnittsamerikaners, ein. Steuern, Arbeitslosigkeit, Krise der Erziehung, Mangel an Verständnis für die ständig wachsende Unterfinanzierung der Großstädte (was zu Einschränkungen der Gesundheitsdienste, kultureller Einrichtungen und des bitter notwendigen Wohnungsbaus geführt hat), vor allem aber die konfusionsreiche Praxis der „Lohn- und Preiskontrollen“, die sich mehr als einmal gegen den

Lohnempfänger und den Verbraucher notwendiger Existenzmittel auswirkten, geben hier sehr reale Angriffsflächen.

Alle demokratischen Präsidentschaftsanwärter stellen sich dabei mehr oder minder militant als Sachwalter des „kleinen Mannes“ dar, am kompromißlosesten der südstaatliche Gouverneur George Wallace, der seine etwaige „Dritte Partei“ mit populistischen Losungen drohend an die Wand malt.

Es scheint, daß die eindeutige Kampfansage des greisen Chefs der 15 Millionen umfassenden Gewerkschaft AFL-CIO, George Meany, an Nixon nicht hat verhindern können, daß, mannigfachen Berichten zufolge, als Konsequenz gewisse Arbeiterschichten Wallace und nicht die konventionellen Demokraten als ihren Sprecher empfinden.

Irgendwie ist die Situation nicht nur zwiespältig (der außenpolitische, nicht in Frage gestellte Realismus des Präsidenten gegen den Realismus der Opposition in innenpolitischen Fragen), sondern fast der vorwegnehmenden Analyse unzugänglich. Der Fragezeichen gibt es zu viele. Das Schicksal Präsident Nixons und die Frage, ob er vier weitere Jahre Zeit bekommt, das Gesicht (und Gewicht) der amerikanischen Innen- und Außenpolitik zu bestimmen, hängt von einer Reihe von Imponderabilien ab, über die sich dutzende und aberdutzende Beobachter die Köpfe zerbrechen und, ständig sich widersprechende ,,polls“ zu Hilfe rufend, insgesamt in Spekulationen ergehen.

Der erste Unsicherheitsfaktor ist das „Jugend-Votum“. Die hier zur Abgabe einer Stimme in der Novemberwahl berechtigende Eintragung in die Wählerlisten entsprach nicht ganz den Hoffnungen derer, die von ihr einen starken Einfluß erwarteten, was dazu führte, daß in einzelnen Staaten die ursprünglich zeitlich begrenzten Termine „aufpoliert“, nämlich verlängert wurden, um weitere Propaganda für eine verantwortliche Mitarbeit der Achtzehn-bis Fünfundzwanzigjährigen zu ermöglichen.

Niemand weiß, ob die Jungwähler sich der Opposition gegen den Status quo anschließen oder (etwa der Atmosphäre des Elternhauses folgend) bereit sind, der jetzigen Administration weiteren Kredit zu gewähren.

Ein zweites Fragezeichen ist Senator Edward (Ted) Kennedy. Obwohl er mehr als einmal festgestellt hat, daß er kein Kandidat — zumindest nicht 1972 — für die Präsidentschaft sei, sehen nicht wenige Demokraten, unglücklich über die selbstmörderische Zersplitterung der Partei durch das fast das Dutzend erreichende Aufgebot der „erklärten“ demokratischen Kandidaten für die primaries, in ihm ihre einzige Hoffnung auf eine möglicherweise erfolgreiche Persönlichkeit, die dem Präsidenten entgegenzustellen wäre. Wird Kennedy (würde er) sich einem solchen Appell einer mehrheitlichen Zustimmung ehemaliger Muskie-, McGovern-, Lindsay-, Chishelm-und anderer Delegationen entziehen?

Bis zum Parteikonvent vergeht allerdings noch etwas Zeit. Die Auguren studieren jedenfalls jedes Ergebnis einer Vorwahl. Immerhin: ein nationales Gesellschaftsspiel.

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