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„Gebt uns bessere Kandidaten44

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Er ist „auf der Suche nach der amerikanischen Staatskunst" -so jedenfalls war es jüngst in den Tageszeitungen „Los Angeles Times" und „International Herald Tribüne" zu lesen, wo er unter diesem Titel einen vielbeachteten politischen A ufsatz publizierte: Henry Steele Commager, Doyen der amerikanischen Historiker. Commager präzisiert in diesem Essay: „ Was erforderlich ist, ist eine Staatskunst, die sich von den irregeleiteten Voraussetzungen der Vergangenheit befreit und uns zu einer neuen Art des Denkens führt": eine Überlegung, die gerade in einem amerikanischen Wahljahr höchst brisant ist. In einem Interview, das FURCHE-Redakteur Burkhard Bischof kürzlich mit Commager führte, ging der bekannte Historiker näher auf die Krise ein, die sich seiner Meinung in den USA vor allem im Staatsdienst zeigt:

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Er ist „auf der Suche nach der amerikanischen Staatskunst" -so jedenfalls war es jüngst in den Tageszeitungen „Los Angeles Times" und „International Herald Tribüne" zu lesen, wo er unter diesem Titel einen vielbeachteten politischen A ufsatz publizierte: Henry Steele Commager, Doyen der amerikanischen Historiker. Commager präzisiert in diesem Essay: „ Was erforderlich ist, ist eine Staatskunst, die sich von den irregeleiteten Voraussetzungen der Vergangenheit befreit und uns zu einer neuen Art des Denkens führt": eine Überlegung, die gerade in einem amerikanischen Wahljahr höchst brisant ist. In einem Interview, das FURCHE-Redakteur Burkhard Bischof kürzlich mit Commager führte, ging der bekannte Historiker näher auf die Krise ein, die sich seiner Meinung in den USA vor allem im Staatsdienst zeigt:

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FURCHE: Die Amerikaner - so scheint es vielen Europäern ebenso wie vielen politischen Beobachtern - sind über ihre Wahlmöglichkeiten für die kommende Präsidentschaftsentscheidung nicht allzu glücklich, geschweige denn begeistert. Worauf ist das Ihrer Meinung nach zurückzuführen?

COMMAGER: Was ich in der amerikanischen Gesellschaft von heute registriere, ist ein Rückgang des Interesses in die Politik, ist eine weitverbreitete politische Apathie. Das hat vor allem mit dem Prestigeverlust und Autoritätsverfall der politischen Führung zu tun.

Es herrscht allgemein das Gefühl vor, daß es im Grunde genommen ja sowieso nichts ausmache, welche Partei Wahlen gewinnt. Die Leute sind größtenteils der Ansicht: Welche Partei immer siegreich aus Wahlen hervorgeht, wer immer Präsident wird - es geschehen eigentlich dieselben Dinge.

Allerdings ist dieses Phänomen nicht allein auf die Vereinigten Staaten beschränkt, sondern trifft etwa auch für Kanada, Frankreich und andere Staaten zu.

FURCHE: Wie ist es zu dieser politischen Apathie in der amerikanischen Gesellschaft überhaupt gekommen?

COMMAGER: Amerikanische Präsidenten werden für die Politik verantwortlich gemacht, genauso wie etwa in Europa die Parteien. Und Präsidenten beziehungsweise Präsidentschaftskandidaten führen die Wahlkämpfe, nicht die Parteien. Sie machen all die Versprechungen.

Jeder von ihnen verspricht, wenn er Präsident wird, werde er die Inflation eindämmen - aber keinem gelingt es; jeder von ihnen kündigt an, er werde die Arbeitslosigkeit aus der Welt schaffen - keinem gelingt es. Deshalb sind sie unter ständigem Druck, jeder will den anderen an Versprechungen überbieten.

Die amerikanische Öffentlichkeit hat mit den Jahren gelernt, Wahlkampfrhetorik und den Wahlkampfversprechungen nicht allzuviel Aufmerksamkeit zu schenken. Wonach sie sich heute mehr denn je sehnt, ist Offenheit und Ehrlichkeit. Aber das ist eine andere Geschichte...

FURCHE: Sie sprachen von A utori-tätsverfall. vom Prestigeverlust der politischen Führung. Sehen Sie hier eine Wendung in Richtung einer stärkeren und flexibleren Führung?

COMMAGER: Im großen und ganzen: nein! Ich sehe sehr wenige Anzeichen einer politischen Führung in der Art, wie wir sie am Beginn unserer amerikanischen Geschichte gehabt haben. Der letzte starke Führer in den USA war Franklin D. Roosevelt. Er repräsentierte den bisherigen Höhepunkt in der amerikanischen Politik des 20. Jahrhunderts.

FURCHE: Und worauf führen Sie es zurück, daß es in den Vereinigten Staaten heute an politischen Persönlichkeiten mangelt, in der öffentlichkeil offensichtlich eine starke Verdrossenheit gegenüber der politischen Führung herrscht?

COMMAGER: Das ist eine schwer zu beantwortende Frage, vielleicht ist es sogar unmöglich, eine Antwort darauf zu geben. Aber vielleicht gibt es starke politische Führerschaft nur in aristokratischen- oder Klassengesellschaften. Sie tendiert im Grunde genommen dorthin, wo es die größten Vorteile für sie gibt.

Der Prestigeverfall und Autoritätsverlust der politischen Führung in unseren Tagen ist ein Phänomen des komplizierten modernen Lebens und sicherlich nicht auf die USA beschränkt. Gewiß aber haben wir ein außerordentliches Beispiel Tür dieses Phänomen zu bieten:

Während der amerikanischen Revolution gab es bei uns eine Fülle talentierter politischer Persönlichkeiten: Ben Franklin, George Washington, Thomas Jefferson, Alexander Hamilton, John Adams, Samuel Adams, John Jay, John Marshall, John Madi-son - wir haben seitdem niemals mehr etwas Ähnliches gehabt.

Es gab damals nicht viele Möglichkeiten, um sich einen Ruf zu schaffen, um eine Karriere zu machen: Es gab keinen Hof, keine etablierte Kirche, kein Bankenwesen, kein Militär (die Armee unter Washington bestand 860 Mann) - wo sollte man also hingehen, wenn man talentiert und ehrgeizig zugleich war? Man ging in den Staatsdienst - das war alles, was es gab . . .

Heute aber gehen die talentierten jungen Leute ins große Geschäft, in die Medizin oder versuchen als Anwälte, bei großen Konzernen unterzukommen.

Ein Beispiel: Studenten meiner Universität, die als Anwälte irgendwo hingehen, können mit einem Anfarrgsge-halt von 30.000 Dollar im Jahr rechnen - mehr, als beispielsweise die meisten Professoren in unserem Land verdienen. Und sie schaffen es, mit der Zeit auf ein Gehalt von 60.000 Dollar pro Jahr zu kommen. Zudem können sie auch noch einflußreich sein.

FURCHE: Es fehlt in der amerikanischen Gesellschaft von heute also nicht an Talenten, die Frage ist. wo sie sich engagieren können und wollen .. .

COMMAGER: Ich glaube jedenfalls nicht, daß es bei uns in Amerika in den letzten 200 Jahren genetische Veränderungen gegeben hat. Das Potential der Talente ist sicherlich gleich geblieben. Es kommt darauf an, wo diese Talente hingehen.

Nehmen Sie beispielsweise das Medienwesen und schauen Sie sich die Anziehungskraft an, die es auf talentierte Leute ausübt. Wer hier einsteigt, kann erstens reich und zweitens berühmt werden. Das gilt für die Unterhaltungsindustrie überhaupt, aber auch für den Sport, für das Banken- und Rechtswesen.

Unsere Gesellschaft - und nicht nur unsere allein - hat keine Führerpersönlichkeiten mehr, sie hat Berühmtheiten. Im Niedergang begriffen ist in erster Linie der Staatsdienst, wo man zumeist ganz unten anfangen und sich langsam nach oben arbeiten muß - in der Hoffnung, daß man irgendwann einmal irgendwo hinkommt.

FURCHE: Aber es gibt doch auch im Staatsdienst Ausnahmen?

COMMAGER: Natürlich. Ein Mister Kissinger etwa verdiente mit seinen Büchern acht Millionen Dollar. Und in jüngster Zeit war es sogar so, daß der Weg zu Reichtum über das Amt des Präsidenten führte: Anstatt Einkornmen aufzugeben, um der Öffentlichkeit dienen zu können, diente man der Öffentlichkeit, um reich zu werden.

Die ganze Nixon-Administration hat das so gehandhabt. Und als sie deshalb bei der Nation in Ungnade gefallen war, haben Leute wie Spiro Agnew und John Dean dennoch für einen Vortrag 5000 Dollar verlangt oder für ein Buch 100.000 Dollar im voraus kassiert. Das ganze System ist durch das Geld korrumpiert worden und das hat ehrliche und ehrenhafte Leute abgeschreckt.

Vergleichen Sie unsere ersten sechs Präsidenten - Washington, John Adams, Jefferson, Madison, Monroe und John Quincy Adams - mit unseren letzten sechs, falls Ihnen überhaupt ihre Namen einfallen. Und dann schauen Sie sich auch noch die Kandidaten Tür die Wahl im November an ...

FURCHE: Was gefällt Ihnen denn an den Kandidaten für die Präsidentschaftswahl am 4. November nicht?

COM MAGER: Bei Carter und Reagan ist es schwer zu sagen, wie sie zu bestimmten Fragen wirklich stehen. Es fehlt ihnen an Konsequenz, beide scheinen den wirklichen Problemen aus dem Weg zu gehen. Aber vielleicht gehört das heutzutage zu einem Präsidentschaftskandidaten dazu.

Beim unabhängigen Kandidaten John Anderson hingegen scheint mir das nicht der Fall zu sein, das mag auch der Grund dafür sein, daß er gemächlich an Popularität und Stärke gewonnen hat. Ich glaube zwar nicht, daß er der neue Präsident wird. Vielleicht bringt er die Wahlen jedoch ins Repräsentantenhaus.

Grundsätzlich glaube ich, daß ein Zweiparteiensystem viel gesünder als ein Mehrparteiensystem ist. Aber eine unabhängige Partei, eine dritte Kraft, kann ein Ausgleichsmittel für die Zweiparteienherrschaft darstellen.

Wenn das Zweiparteiensystem gerettet werden soll, braucht es Platz für dritte Parteien, damit die anderen zwei ehrlich werden und redlich bleiben.

Denn wenn sich die etablierten Parteien soweit weg von der Öffentlichkeit bewegen, sich so weit weg von den wirklichen Problemen treiben lassen, daß nur 52 oder 53 Prozent der Wahlberechtigten es überhaupt für wert befinden, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen - Carter wurde mit nur 26 Prozent der Stimmen aller wahlberechtigten Amerikaner zum Präsidenten gewählt -, dann braucht es ganz einfach Mittel des Ausgleichs, Korrektive.

Dann braucht es jemanden, der aufsteht, die Parteien schockiert und sagt: „Gebt uns bessere Kandidaten, hört auf damit, Wahlen zu erkaufen, Schluß mit dem Unsinn der Zwei-Minuten-Fernsehstatements zwischem billigem Werbeabklatsch!"

Wir werden den ganzen Prozeß der Auswahl von Kongreßmitgliedern und Präsidenten reformieren müssen.

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