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Brief an eine Jungwahlerin

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Liebe junge Freundin!

Da Du an der bevorstehenden Wahl In den Nationalrat zum erstenmal teilnimmst, hast Du mir die Ehre erwiesen, Dich mit zwei Fragen an mich zu wenden: Erstens: Soll man überhaupt wählen, und zweitens: Wenn ja, wen?

Daß Du überhaupt diese Fragen stellst, könnte mir, wenn ich an die Zeiten der Ersten Republik' zurückdenke, in der ich zum erstenmal wählen ging, seltsam erscheinen. Kaum ein Jungwähler hegte damals den geringsten Zweifel daran, welche Partei er wählen solle, und daraus ergab sich natürlich auch bereits, daß er sein Wahlrecht ausüben wollte. Dabei hat man damals wahrscheinlich noch weniger als heute an die Wirksamkeit gewählter Parlamente geglaubt. Damals nahm man an, daß sich der Anbruch entweder des Sozialismus oder des christlichen Ständestaates oder des tausendjährigen nationalsozialistischen Reiches gleich hinter der nächsten Ecke befände. Daher betrachtete msn die Wahl eher nur als einen geringen, aber nötigen Beitrag, um dem politischen Ideal, dem man anhing, zum Durchbruch zu verhelfen. Das ist heute äHes ganz anders. Die Jugend von heute hat wenig Vertrauen zu den politischen Idealen jener Zeit, da sie sich als unfähig erwiesen haben, die Katastrophe des zweiten Weltkrieges zu verhindern. Wir sollen aber nicht verkennen, daß die politischen Ideale — mit Ausnahme des Nationalsozialismus, der den Krieg ja als wesentliches Mittel zu seiner Verwirklichung angestrebt und auch erreicht hat — immerhin dazu beigetragen haben, daß jene Katastrophe nicht noch ärger gewesen ist, als sie war, weil die Standards menschlichen Verhaltens von jenen, die den Idealen weiter anhingen, gestützt und gehalten wurden. Wenn die Welt nicht vollständig in nihilistischer Barbarei versank und der Krieg beendet wurde, so weil es überall Menschen gab, die auf ihrem Platz den Kurswert „Mensch“ vor weiterem Absinken bewahrten.

Davon mag heute wenig zu merken sein, und außerdem ist all das für Dich und Deine Generation Vergangenheit und Geschichte. Ihr beurteilt, und mit Recht, die politischen Parteien so, wie sie sich euch heute darbieten. Und was ihr seht, ist wenig begeisternd. Ihr seht diese Parteien den politischen Tageskampf führen, der häufig dem Geraufe um eine Anzahl Knochen ähnelt. Ihr seht die Führer dieser Parteien ge-fangen in der Kleinlichkeit dieses Kampfes, abhängig von praktizisti-schen Apparatleuten und dem Fußvolk ihrer Parteien, das für seine treuliche und unverdrossene Kleinarbeit durch gestrige politische Erlebnisse und Begriffe inspiriert wird. Manche der führenden Leute stellen bewußt ihr Licht tinter den Scheffel, um nicht von jenen der Weltfremdheit oder der Untreue an den überkommenen Idealen geziehen zu werden. Was deshalb an politischen Enunziationen — insbesondere jetzt vor den Wahlen — an die Öffentlichkeit hinausgeht, ist wenig geeignet, einer Jugend, die ihr Leben planen will, weite Horizonte zu eröffnen. Daher zweifelst Du und manche Deiner Generation daran, ob es einen Sinn hat, überhaupt zu wählen.

Ich könnte Dir mit dem bekannten Spruch kommen, daß jedes Land die politischen Parteien und Formen und das Niveau in der Politik hat, die es verdient. Aber darauf würdest Du antworten: Nun eben, weshalb sich dann um Politik kümmern und nicht ausschließlich um die eigenen Interessen? Gerade das geschieht aber in der Politik. Sie besteht im Grunde aus nichts anderem. Leute, die nichts anderes zu tun wünschen, als sich um ihre eigenen Interessen zu kümmern, finden in der Praxis heraus, daß sie diese Interessen gegenüber den anderen Menschen und deren Interessen wahren und durchsetzen und letzten Endes ausgleichen müssen. Und das wird, grob gesagt, durch die Politik besorgt, in der alle Interessen und Bestrebungen der Menschen zusammengefaßt und verwirklicht werden — sollen. Übrigens glaube ich nicht an jenen Spruch. Die Menschen sind meistens besser als ihre Parteien und Regierungen. Wenn wir sie näher kennenlernen, dann sehen wir, daß sie so wie Du und ich ihre Vorstellungen und Gedanken darüber haben, was „sein sollte“. Es ist eher so, daß in dem großen Topf der Politik viel Gutes verkocht wird, von dem im fertigen Resultat wenig zu spüren ist. Winston Churchill hat einmal gesagt, die Demokratie sei das unvollkommenste und schlechtest funktionierende politische System, das man sich vorstellen kann — aber es gibt kein besseres, zumindest keines, das uns jene Freiheiten läßt, die wir so sehr schätzen gelernt haben.

Es ist eine Sache des Gewissens, daß man wählen gehen soll. Man ist, um keine höheren Instanzen zu bemühen, niemand anderem dafür verantwortlich als sich selbst. Es nicht zu tun, wäre genau so unnatürlich, wie sich irgendeiner anderen Pflicht zu entziehen, die uns das Zusammenleben mit Menschen auferlegt. Natürlich ist dabei nicht der Gang zur Wahlurne unbequem, sondern die Entscheidung, wen, man wählen soll. Ehe ich aber darauf zu sprechen komme, möchte ich Dir sagen, daß überhaupt zu wählen wesentlich als ein Bekenntnis zu den Grundlagen unseres Zusammenlebens ist. In den totalitären Ländern legt man großen Wert darauf, daß alle Leute ihre Stimme bei dem abgeben, was in Wirklichkeit keine Wahl, sondern nur eine Demonstration für das herrschende Regime ist. Das ist die Wahl auch bei uns, und indem man wählt oder nicht wählt, beantwortet man gleichzeitig die Frage, ob man unser oder jenes andere, totalitäre Regime wünscht.

Verbleibt die Frage: Welche Partei?

Vor der ersten Wahl

Aber ich werde sie Dir nicht nennen. Die Entscheidung, wem man seine Stimme geben soll, ist eine der persönlichsten, die der Mensch zu fällen hatt Sie soll seiner ganzen bisherigen Entwicklung, seinen ureigenen Vorstellungen und Aspirationen entsprechen. Ich gebe zu, daß es nicht immer leicht ist, diese mit dem, was die Parteien anbieten und vor allem, wie sie es tun, in Einklang zu bringen. Die Parteien verkünden ihre Wahlparolen, als ob sie uns Waschmittel zu verkaufen hätten. Der Schriftsteller Ben-Gavriel ließ seinen israelischen Romanhelden an den Hauswänden seines Dorfes ein eigenes Wahlprogramm anschlagen: die Zehn Gebote. Die anderen Parteien erklärten das für ausgesprochen unfair.

Die Schwierigkeit, sich für eine der beiden großen Parteien heute zu entscheiden — die beiden anderen kommen dafür wohl kaum in Betracht, weil die eine kein Programm hat und die andere sowohl im Prinzip als auch in der Praxis die Interessen der Sowjetunion über di österreichischen stellt —, liegt für einen Jungen Menschen wie Dich in ^dem so oft ausgesprochenen Satz, ^aß die Fronten heute nicht mehr von den Parteien gebildet werden, sondern quer durch sie hindurchgehen. Die Parteien spiegeln schon die längste Zeit den Prozeß jener geschichtlichen Synthese wider, in der wir und die ganze Welt uns heute mittendrin befinden, der Synthese der beiden Prinzipien Individualismus und Sozialismus. Die Anforderungen, die die Menschen aller Klassen in bezug auf soziale Sicherheit und materielles Wohlbefinden stellen, hat die Verfechter des Individualismus schon seit langem auf staatssozialistische Wege gedrängt. Umgekehrt zwingen die Erfahrungen, welche die kommunistischen Länder gemacht haben, die sozialistischen Parteien, die aus der Entwicklung des Individualismus überkommenen Rechte auf persönliche Würde und Freizügigkeit anzuerkennen und zu verteidigen. Damit haben die traditionellen Fronten zwischen den Hauptprotagonisten stark ihren Charakter geändert. Wenn die beiden Parteien in der Propaganda zur kommenden Wahl auffordern, daß man sie wählen möge, damit die andere nicht zu stark und vorherrschend werde, dann geben sie damit unbewußt zu, wie sehr sich die Inhalte der Politik vermischt haben. Welche Front ist es nun, die durch die Parteien durchgeht?

Sie wird, grob gesagt, im Positiven von jenen gebildet, welche bereit und befähigt sind, der Synthese menschlicher Aspirationen in unserer Zeit mehr Bedeutung einzuräumen als Sonder- und Parteiinteressen und ideologischen Vorurteilen und Restbeständen. Ich kann Dir, liebe Freundin, beim besten Willen heute nicht sagen, in welcher Partei Du zur Zeit mehr von solchen Leuten finden kannst, noch in welcher . sie mehr Chancen haben, sich durchzusetzen. Wenn ich es wüßte, würde ich die meinige leichter urid freudiger wählen können. Aber wählen werde ich sie. Wenn ich nicht wähle, würde ich mich des Rechtes berauben, jene Front quer durch die Parteien bilden zu helfen.Dein...,

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