Von Mühlsteinen eingequetscht

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Die Kurden im Irak setzen alle Hoffnung auf die USA. Eingezwängt zwischen den zwei misstrauischen Nachbarstaaten Türkei und Iran, fürchten sie um ihre wiedergewonnene einzigartige Freiheit. Ein Reisebericht.

Die Wolken ziehen sich dichter zusammen. Ein eisiger Wind pfeift über den Bergsattel. Die löchrige Asphaltstrasse stößt an ein weiß-grün bemaltes Gittertor. Nach zweistündiger Fahrt von Urmieh, im iranischen West-Aserbaidschan, sind wir in den schneebedeckten Bergen angelangt, wo die Iraner an Wochentagen inoffiziell Menschen aus dem kurdischen Nord-Irak ein- und ausreisen lassen. Hadschi Omran nennen die Kurden diesen Grenzposten, einen der wenigen zum Iran.

Die Passage ist nach erstaunlich kurzer Zeit gestattet. Das Gittertor öffnet sich, und der Weg ist frei in das "freie Kurdistan" - doch nur zu Fuß. Jenseits des Gitters besteigt man eines der wartenden kurdischen Taxis. Hundert Meter weiter stoppt ein Maschinengewehrlauf das Auto. Ein kurzer Blick auf den Pass der Fremden, ein erklärendes Wort des Begleiters, und der Peschmerga (wie sich die kurdischen Freiheitskämpfer nennen) winkt zur Weiterfahrt.

Erleben eine goldene Zeit

Die Straße fällt steil ab. Kleine, armselige Hütten erheben sich aus der rauhen Landschaft, vor etwa zehn Jahren mit internationaler Hilfe wieder aufgebaut. Saddam Hussein hatte in den späten siebziger und achtziger Jahren in einer systematischen Terrorkampagne rund 4.500 kurdische Dörfer zerstört, Brunnen zubetoniert oder gesprengt, Obstbäume niedergemäht und das Land teilweise vermint, um damit den Freiheitswillen der Kurden zu brechen und den um ihre Rechte kämpfenden Peschmergas den Lebensraum zu nehmen. Das Leben aber ist hierher zurückgekehrt, auch in die entlegensten Ecken.

"Wir sind eingequetscht zwischen riesigen Mühlsteinen." Mumtaz Hayderie, prominenter Linksintellektueller und Publizist in der mehr als 700.000 Menschen zählenden Kurdenhauptstadt Erbil, meint mit den Mühlsteinen die Nachbarn Iran und Türkei, von dem Regime in Bagdad freilich ganz zu schweigen. Die Kurden haben keinen Zugang zum Meer und sind eingekreist von Nachbarn, die in den vergangenen zwölf Jahren in panischer Angst vor Freiheitsbestrebungen ihrer eigenen kurdischen Minderheiten nach Kräften versuchten, das Experiment kurdischer Selbstverwaltung im Nord-Irak zu stören.

Doch sie konnten es nicht zerstören. "Wir erleben, trotz aller Schwierigkeiten, eine goldene Zeit, eine Freiheit, wie sie die Kurden so lange erträumten", schwelgt ein Geschäftsmann in der aufstrebenden Provinzstadt Dohuk. In diesem Land wilder Berge, fruchtbarer Hügel und Ebenen, reißender Wasserfälle und ausgedörrter Öden, haben die Kurden seit 1991, vor Saddams Todesmaschinerie durch Amerikaner und Briten aus der Luft geschützt, ein Gesellschaftssystem mit Freiheiten errichtet, die nicht nur dem Rest der irakischen Bevölkerung verwehrt bleiben, sondern auch fast allen anderen Ländern der Region. In diesem juridischen Niemandsland haben sie eine relativ effiziente Verwaltung aufgebaut, mit einem gewählten Parlament und Gemeinderäten, mehr als 50 Zeitungen und Zeitschriften, unbegrenztem Zugang zu Satellitenfernsehen und Internet, Bibliotheken, Kulturzentren, Buchverlagen. Demokratie, Pluralismus und Toleranz ist das Ziel der Kurdenführer, auch wenn sie es in der Praxis untereinander nicht immer erreichen.

Dohuk verdankt seinen relativen Wohlstand dem Handel (und Schmuggel) mit der nahegelegenen Türkei. Im Rest des Landes überwiegt bittere Armut. 30 Prozent der Bevölkerung vegetieren unter der Armutsgrenze, 60 Prozent müssen sich mit einem Einkommen von umgerechnet zwei Dollar im Tag begnügen. Die Arbeitslosenrate liegt bei mindestens 30 Prozent.

Am türkischen Busen

Doch ungeachtet der in ihrer Geschichte wohl einzigartigen Freiheit sind die Kurden immer noch nicht Herren ihres Schicksals. Ankara hat wiederholt die Absicht bekundet, die türkische Armee in den Nord-Irak zu senden, denn "wir werden keinen Pseudostaat am Busen der Türkei" tolerieren. Diese gegen kurdisches Unabhängigkeitsstreben gerichteten Worte wurden wiederholt von der neuen türkischen Regierung bekräftigt. Wiewohl die Kurden betonen, dass sie keinerlei Sezessionsabsichten hegen, dass sie in einem künftigen irakischen Föderationsstaat bleiben wollen, ist Ankara entschlossen, im Schatten einer amerikanischen Invasionsarmee im Nord-Irak einzumarschieren - entweder als türkische Streitkraft oder im Rahmen der NATO.

Die Kurden sind schockiert. "Wenn die Türken einmal kommen, dann werden sie lange bleiben", warnt ein kurdischer Publizist düster und der führende Politiker der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) Safin Dizayee bekräftigt, ein türkischer Truppeneinmarsch "könnte sich als Selbstmordaktion erweisen. Er würde nicht nur alles zerstören", was die Kurden in zwölf Jahren aufgebaut haben, sondern, so Dizayee, die Bemühungen um "politische Stabilität" im Irak nach Saddam untergraben. Der Iran, so fürchten viele, würde einer solchen Aktion seines regionalen Rivalen nicht tatenlos zusehen.

"Wenn die türkische Armee in den Nord-Irak vordringt, dann wird sie eine Revolution auslösen", gibt sich Jafar Iminghi, stellvertretender PDK-Chef der Region Dohuk, überzeugt. 90 Prozent der Kurden besitzen Waffen. "Wir haben alles unter Kontrolle, die Menschen wollen nicht mehr kämpfen." Aber, wenn sie ihre Freiheit bedroht sehen, "werden sie sich wehren."

Wende ohne Blutvergießen

Fast einhellig setzen die Kurden des Nord-Iraks heute auf die USA. Sie vertrauen der Supermacht, "auch wenn sie uns mehrmals in der Vergangenheit hintergangen hat", fasst Iminghi die Stimmung zusammen. "Wir werden auf der Seite der Amerikaner stehen, solange sie uns nicht wieder verraten", meint ein kurdischer Lehrer. "Nur die USA können uns und den gesamten Irak von Saddam befreien." Tatsächlich kann das kurdische Freiheitsexperiment nicht mehr sehr lange ohne international anerkannten und abgesicherten Status überdauern.

"Wir werden im Schatten der Amerikaner weder nach Bagdad marschieren, noch nach Kirkuk", bekräftigt Bruska Shaways, stellvertretender Oberkommandierender der PDK-Streitkräfte. "Wir werden nur unser befreites Territorium verteidigen." Unter keinen Umständen wollen sich die Kurden in Kämpfe hineinziehen lassen. Ihre Hauptaufgabe sehen sie erst nach Kriegsende. "Wir bereiten unsere Peschmergas darauf vor, die Rolle einer nationalen Polizei zu übernehmen und Racheaktionen der Iraker untereinander zu verhindern. Die Menschen haben zu viel gelitten", betont Bruska. "Die Wende soll mit so wenig Blut wie möglich erreicht werden".

Die Autorin ist Nahost-Korrespondentin.

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