Auswüchse einer Ohnmacht

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Vor genau zwei Jahren nahmen Milizen des "Islamischen Staates" die nordirakische Millionenstadt Mossul ein. Die angrenzende Kurdenregion nimmt die Geflohenen ungeachtet ihrer Religionszugehörigkeit auf.

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Vor genau zwei Jahren nahmen Milizen des "Islamischen Staates" die nordirakische Millionenstadt Mossul ein. Die angrenzende Kurdenregion nimmt die Geflohenen ungeachtet ihrer Religionszugehörigkeit auf.

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Bequemes T-Shirt, weiter Rock. In Kombination mit dem nach hinten gebundenen Kopftuch erinnert Schwester Elishoua eher an eine Kolchosenbäuerin als an eine Ordensfrau. Für die irakische Christin ist das Ensemble in unterschiedlichen Blautönen dennoch das perfekte Berufsgewand. Denn wer, wie die "Kleinen Schwestern Jesu", an Orten wie Bagdad, Mossul oder Erbil arbeitet, kann auf feines Tuch und perfekt sitzende Ordens-Schleier gut verzichten.

Freitagnachmittag, unweit der irakisch-kurdischen Hauptstadt Erbil. Die Sonne brennt auf die Containerdächer im Flüchtlingslager "Ashti II". Wie jeden Freitag ist auch heute keine Schule; die gestampften Straßen, auf denen sich wochentags bis zu 750 Kinder tummeln, sind beinahe leer. Viele der knapp 6000 Menschen hier machen sich zum Kirchgang bereit. Die Kleinsten sind herausgeputzt, durch den Lautsprecher der frisch gestrichenen Holzkirche ertönt bereits der Messgesang. So gut wie alle hier sind Christen. Vor zwei Jahren sind die meisten Camp-Bewohner aus der nur knapp zwei Autostunden entfernten Region um Ninive vor dem IS geflohen. Anders als Schwester Alice, die erst seit einem Monat hier ist. "Bis vor wenigen Wochen war ich in Bagdad, und in knapp zwei Monaten gehe ich zurück nach Damaskus", verrät die alterslos wirkende Mitfünfzigerin: "Weil auch dort die Menschen jemanden zum Reden brauchen."

Seelsorge für Vertriebene

Dass Alice und ihre Mitschwester in Ashti II als Seelsorgerinnen tätig sind, bedeutet den Geflohenen im Lager viel. Christinnen und Christen sind im Irak eine Minderheit und stellten die Mehrheitsbevölkerung nur vor dem Aufkommen des Islam im 7. Jahrhundert. Ob die irakischen Christen syrischer und armenischer Prägung dem IS durch ihre religiöse Minderheitenrolle verhasster sind als Muslime? Darüber scheiden sich die Geister. "Dass christliche oder jesidische Dörfer überfallen werden, ist oft auch Zufall", erklärt Samir Harboy, der neben Christen auch viele Jesiden aus der Region um Mossul kennt. Alle paar Wochen macht sich der 25-jährige Radiojournalist auf in die ländlichen Gebiete, in denen Vertriebene leben.

Die dort gesammelten Augenzeugenberichte macht er via "Radio Al-Salam"(Radio des Friedens) zugänglich. Oft gehen Samirs Interviews an die Grenzen des menschlich Vorstellbaren: Frauen, die nach dem gewaltsamen Tod der Männer gezwungen werden, das Blut der Verstorbenen zu trinken. Buben unter zehn Jahren, die entführt und als "Kopfabschneider" ausgebildet und zwölfjährige Mädchen, die als Bräute verkauft und bei Nichtgefallen weiterverkauft werden. Doch bei all den Gräuel-Berichten glaubt Samir, der neben seiner Radiotätigkeit auch an der Erbiler Universität Französisch unterrichtet, nicht an religiöse Motive hinter den brutalen Übergriffen.

Dafür sei die Philosophie der Terrormilizen zu simpel gestrickt, funktioniere zu undifferenziert und orientiere sich an einem "Wer-nicht-mit-uns-ist-ist-gegen-Uns". Irakisch-Kurdistan und seine Menschen auf der Flucht. In einem Gebiet, das etwa halb so groß wie Österreich ist, ist die Zahl der Flüchtlingslager mittlerweile auf 31 angewachsen. Von ihnen werden 23 als so genannte IDP-Camps geführt, in denen Binnenvertriebene ("internally displaced people") Zuflucht finden. Seit dem Kriegsausbruch 2011 steigt nicht nur die Zahl derer, die aus dem angrenzenden Syrien kommen.

Bis heute sind über 2,3 Millionen ins kurdische Autonomiegebiet geflüchtet und stellen die wirtschaftlich ohnedies angeschlagene Region mit einer ursprünglichen Einwohnerzahl von fünfeinhalb Millionen vor große Herausforderungen. Noch dazu in einer Zeit, in der die irakische Zentralregierung den Kurden aufgrund eigenständiger Ölgeschäfte mit der Türkei finanzielle Förderungen streicht.

Doch die 7150 Milliarden Liter Erdöl im irakisch-kurdischen Autonomiegebiet wecken neben dem Unmut in Bagdad auch das Interesse des IS. Schon im Jänner 2015 hatten Milizen des "Islamischen Staates" versucht, das weltweit sechstgrößte Ölfeld um Kirkuk gewaltsam einzunehmen.

Christen, Muslime, Da'esch

Hätten bewaffnete Peschmerga- Einheiten die selbsternannten Gotteskrieger nicht zurückgeschlagen, sähe es in der irakisch-kurdischen Zweimillionen-Metropole Erbil heute womöglich so aus wie im nur 85 Kilometer entfernten Mossul.

Mossul, die Dreimillionenstadt an der Grenze zu Irakisch-Kurdistan. Wenn Schwester Elishoua an den einstigen Ort ihres Wirkens denkt, wird sie nachdenklich. Vor genau zwei Jahren, am 10. Juni 2014, war die nach Bagdad zweitgrößte Stadt des Irak von Truppen des IS überfallen worden. "Ich wollte bleiben", meint sie und erzählt, dass ihr die Freunde beim IS sogar Personenschutz zugesagt hätten. Dass eine christliche Ordensfrau in gutem Einvernehmen mit islamischen Fundamentalisten steht, mag verwundern. Doch für die gebürtige Irakerin war Interreligiosität in ihrer Heimat lange gelebte Praxis - sogar unter Kurden-Verfolger Saddam Hussein. "Unter ihm gab es auch viele Freiheiten. Frauen brauchten kein Kopftuch zu tragen, fuhren Autos, gingen zur Universität. Außerdem räumte er den irakischen Christen mehr Rechte ein. Doch das gefiel den Saudis nicht."

Ähnlich wie in Syrien und Libyen forcierte Saudi-Arabien auch im Irak das Aufkommen dschihadistischer Gruppen und beschwor damit das Erstarken von Da'esch, wie der IS in arabischen Ländern abwertend genannt wird. Selbst würde sich die Terrormiliz wohl niemals so bezeichnen. Denn "Da'esch" oder "Daiisch", das Akronym von "Al-daula al-Islamija fi-l-Iraq wa-l-Scham", zu deutsch: "der islamische Staat im Irak und in der Levante", ist eine Art Nonsens-Wort und ähnelt dem arabischen Ausdruck für "Zwietracht säen". Und genau das, so Schwester Elishoua, wollte Saddam Hussein im Bereich der Religionen verhindern.

Kein Hass durch Religion

Allerdings sei der Plan, alle Religionen im Irak gleichermaßen zu stärken, nicht flächendeckend aufgegangen. "Die kurdische Autonomiebehörde etwa heißt geflüchtete Christen willkommen", erzählt die Ordensfrau, die an militärischen Kontrollpunkten von Peschmerga wegen ihrer weithin sichtbaren Religionszugehörigkeit oft schon bevorzugt behandelt worden ist. Bezogen auf die irakisch-kurdische Zivilbevölkerung verhalte es sich allerdings anders. "Weil irakische Christen meist nur Arabisch und damit die Sprache der einstigen Aggressoren sprechen, sind sie in Irakisch-Kurdistan nicht immer gern willkommen."

Religiösen Fanatismus will Schwester Elishoua daraus dennoch nicht herleiten. Der entstehe vielmehr oftmals dann, wenn Menschen in Nahost entdecken, "dass in unserer Region nahezu alles von den USA kontrolliert ist". Fanatismus als Folge einer Idee von Überlegenheit entspringt für sie nicht einem Religionsverständnis, sondern dem Gefühl von Ohnmacht. Und die empfinde man im Gebiet des einstigen Mesopotamien zu Recht.

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