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„Das nationale Picknick der Armee“

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Der Bürgerkrieg im Irak, die blutige Auseinandersetzung zwischen der kurdischen Minorität, die mit 1,5 Millionen rund 20 Prozent der Bevölkerung ausmacht, und den Arabern, hat auch die christlichen Minderheiten in eine unübersehbare Katastrophe hineingezogen. Die 120.000 Chaldäer, mit Rom unierte Katholiken, und die 35.000 Nestoria-ner oder Assyrer, die zum großen Teil in geschlossenen Gemeinschaften in den kurdischen Provinzen siedelten, wurden durch die Angriffe der irakischen Armee völlig unvorbereitet getroffen.

Am 2. Juli 1963 erklärte der damalige irakische Verteidigungsminister Generalleutnant Salah Mahdi Am-mash, er habe auch in bezug auf die chaldäischen und assyrischen Dörfer „sichergehen müssen“. „Ich nenne dies nicht einen Krieg. Es ist ein nationales Picknick der Armee.“

Die Bilanz, die Bischof N. nach dreijährigem „Picknick“ zieht, ist von jener Art, die keinen Kommentar verträgt.

„Der Frieden ist so fern in diesem Land, in dem das schwarze Elend auf allen Bevölkerungsschichten liegt, vor allem aber auf den armen gepeinigten Menschen des Nordens: Konsequenz von vier Jahren Drangsal und politischer Umstürze, die das Land in Ruin und Hungersnot geführt haben.

Im Monat September 1961 besetzten die Revolutionstruppen der Kurden den Norden, um die Rechte ihrer Nation zu proklamieren. Die irakische Regierung antwortete auf diese Herausforderung mit den grausamsten Maßnahmen, die man sich vorstellen kann: sie ließ auch unsere Dörfer bombardieren, die Bauernhöfe verbrennen — und sie ließ ihrer Armee die Freiheit, alles ohne Einschränkung zu plündern und zu vernichten.

Vor dieser Welle der Bestialität flüchteten die Bewohner des Nordens in die Städte, sie ließen all die unschuldigen Opfer und all ihr Hab und Gut hinter sich, um ihr nacktes Leben zu retten. Und dabei wußten sie sehr genau, welch miserables Leben ihnen noch bevorstand.

Schon in dieser Zeit haben die

Wohltätigkeitswerke, besonders die Katholische Caritas und das Orient-Werk der Dominikaner-Mission im Irak, den Flüchtlingen geholfen, soweit sie konnten. Aber die Zahl der völlig verarmten Menschen war einfach zu groß: 35.000 Christen mit ihren Priestern. Vier Jahre vegetieren diese unsere Brüder schon dahin. Und nur die Hoffnung auf eine imaginäre bessere Zukunft erhält sie am Leben...

Nach den Waffenstillstandsdeklarationen der beiden kämpfenden Parteien — der Kurden und der Regierung — im Februar 1964 ist ein Drittel der Flüchtlinge in den Norden zurückgekehrt. Ja, die Regierung befahl die Rückkehr und machte große Versprechungen: Wiederaufbau der Dörfer, Anerkennung und Rückerstattung der durch die irakische Armee verschuldeten Schäden — und alles das innerhalb der drei Sommermonate 1964. Aber was geschah? Nichts. Was also ist zu tun? Zurückkehren in die Städte? Die Regierung hatte jede Rückkehr streng verboten. In den Dörfern bleiben? Noch größere Katastrophe ... Wie leben und wovon? Und wie eine Familie ernähren?

Die immer wieder wechselnden Regimes haben im Land eine Politik der Unstabilität geschaffen, die Un-stabilität gebar immer neues Mißtrauen; aus dem Mißtrauen erwuchsen Arbeitslosigkeit und Hungersnot. Die Geschäftsleute und Unternehmer zogen sich aus dem aktiven Geschäftsleben zurück; sie kassierten ihr Geld, liquidierten alle laufenden Arbeiten und warteten erst einmal ab, was die Zukunft bringen würde. So wuchs die Existenzangst der Bauern und Arbeiter von Tag zu Tag.

Seit dem 9. September 1961 gibt es praktisch keine Landwirtschaft mehr. Die Konsequenzen für die Bewohner des Nordirak sind klar: die Zahl der Bettler steigt erschrek-kend, und allein in unserer Diözese haben wir über 750 Familien, die buchstäblich dabei sind, zu verhungern.

Der Klerus Nordiraks ist durch dieselbe Drangsal gegangen wie seine getreuen Gläubigen. Die meisten unserer Priester sind zuerst in den Bischofssitz geflüchtet. Unter ihnen befanden sich natürlich auch solche, die verheiratet sind und für ihre Familien zu sorgen haben; sie nehmen Zuflucht zu unserer sehr begrenzten Hilfe. Es gibt andere, die in der verbotenen Zone geblieben sind und vom Edelmut ihrer Pfarrkinder leben.

Dies ist die tragische Situation, in der wir uns befinden und in der wir uns ganz dem Wohlwollen der Christen in aller Welt empfehlen.“

Diesem Dokument fügen wir noch einige Zahlen hinzu, die das Ausmaß der Katastrophe kennzeichnen, die die Christen im Irak zu vernichten droht. Die zwei großen christlichen Religionsgemeinschaften im Irak sind die Chaldäer (mit Rom uniert) und die Nestorianer. Ein großer Teil wohnt in den Städten: in Bagdad 39.730 Chaldäer, 11.340 Nestorianer; in Mossul 41.460 Chaldäer, 1085 Nestorianer, in Basrah 3480 Chaldäer, 1905 Nestorianer. Ferner gibt es zahlreiche Dörfer in der Ebene von Alquosh (10.150 Chaldäer, 2005 Nestorianer).

Die meisten Dorfgemeinschaften aber liegen in den Bergen Kurdistans: Beweis für die Drangsal vieler Jahrhunderte. Nur in den unzugänglichen Bergen gab es ein Überleben in der islamischen Umwelt. Es gibt in den Bergen des irakischen Kurdistan 67 chaldäische und 61 nesto-rianische Dörfer mit 29.065 Chaldä-ern und 16.085 Nestorianern. Von 149 Dörfern existieren 127 praktisch nicht mehr. „Ausradiert“, wie man einmal diese Methode nannte.

Verschwunden sind die berühmten Kiefernhaine von Sware Tuka und Galli Kae, die tiefen Wälder von Dschebel BeKheir. Napalmbomben leisten ganze Arbeit. Die irakische Luftwaffe verfügt über eine Staffel Hunter, eine MIG-17-Staffel, zwei Kampfbomberstaffeln mit Venoms und Vampires und eine Kampfbomberstaffel mit Iljuschin 28. Da die christlichen Dörfer mit einigen Gewehren ausgerüstet waren, vergingen die Tage für die Luftwaffe in der Tat wie ein kleines Picknick.

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