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Der „verlorene Kontinent

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Es ist kein schöner Empfang, den das neue, freie Indonesien dem weißen Touristen entbietet. Die ersten Stunden werden hier auch für den erfahrenen, ausgekochten Ostasienfahrer zu einem Vorsaal der Hölle. Schon die Fahrt vom Airport Kemajoran nach Djakarta ist eine Strapaze, die allerhand Anforderungen an die Nerven, an das Auge, den Geruchssinn und die Ohren des Reisenden stellt. Wie eine breiigschmutzige, undefinierbare Masse fließt der Verkehrsstrom träge durch den durch ein Tropengewitter in ein Schlammbett verwandelten Fahrweg. Die jeglicher Verkehrsdisziplin spottenden Betjakfahrer (Betjak = dreirädrige Rikscha) „regeln“ völlig unberechenbar den Verkehr. Ihren souveränen Launen sind Autos, Lastkraftwagen und Omnibusse vollkommen ausgeliefert. Das Höllenkonzert der Betjakklingeln, Autohupen, der Schimpfkanonaden und tausendfältigen Flüche würde Tote auferwecken, und der Gestank vom nahen Kanal her, wo Frauen im lehmigen Wasser Wäsche waschen und Kinder ihre Notdurft verrichten, vermischt sich mit dem aufdringlichen Schweißgeruch der Massen und wird in der feuchtschwülen Tropenluft beinahe unerträglich. Bei empfindsamer Nase führt dieses Erlebnis nicht selten zu einer Rebellion des Magens.

Für einen Weißen ist es heute eine besondere

Auszeichnung, wenn ihn ein Betjakfahrer, ein Kellner oder Beamter mit „Bung“ (Kamerad) anredet, und die früher mit Respekt gebrauchte Bezeichnung Orang Beiander ist zu einem Schimpfwort geworden. Aber auch die Auszeichnung mit der Anrede „Bung“, mit der die Indonesier heute ihre Volksgenossen, vom Betjakfahrer bis zum Staatspräsidenten, ansprechen, macht uns den widerwärtigen Empfang nicht angenehmer und läßt uns nicht übersehen, daß wir schon vom ersten Betjakfahrer mit der Forderung des fünffachen Preises übers Ohr gehauen werden.

Das ist die Rache, ein Teil der Rache, den der Indonesier heute am weißen Mann, am Orang Beiander, nimmt, dafür, daß die Indo-nesen während 350 Jahren unter der Herrschaft der Weißen immer diejenigen waren, die im Unrecht waren und auf der Schattenseite des Lebens saßen. Jahrhundertelang durften sie warten, bis es dem Orang Beiander einmal gefiel, der Gebende zu sein. Heute ist es der Weiße, der sich in Geduld üben muß, wenn er den Mut hat, in Indonesien zu reisen oder gar zu leben.

Seit neun Jahren ist das Land der 13.000 Inseln souverän, und das Wort Merdeka, Freiheit, ist für den Indonescn der Inbegriff des Lebens;

Merdeka bezaubert diese braunen Menschen, fasziniert sie. Was sie auch immer tun, sie tun es unter dem Einfluß dieses Zauberwortes. Ob sie arbeiten, hungern, rauben, morden, stehlen, den Weißen nach Strich und Faden übervorteilen, Kinder gebären oder Tote zu Grabe tragen, immer tun sie es im Namen und zum Lobe der Freiheit! Merdeka.

Das Inselreich ist frei von der einstigen Kolonialherrschaft. Aber aus Merdeka haben diese Menschen einen Fetisch gemacht. Es ist ein Zerrbild der Freiheit und muß es bleiben, bis diese einfachen Menschen verstehen gelernt haben, daß Freiheit nicht nur Rechte gewährt, sondern auch Pflichten auferlegt. Das aber hat die indonesische Bevölkerung bis heute geflissentlich übersehen. Sie sind souverän und haben die Freiheit errungen, aber es ist eine Freiheit ohne Frieden, eine Freiheit der Not und der Entbehrungen, eine Fiktion, wie dieses Staatswesen überhaupt. Die an Rohstoffen unermeßlich reiche und mit überquellender Fruchtbarkeit gesegnete tropische Inselwelt zwischen Asien und Australien wird seit den ersten Tagen nach der Befreiung von der holländischen Herrschaft von inneren Wirren unaufhaltsam erschüttert. Es gibt kein größeres Gebiet des 11,9 Millionen Quadratkilometer umfassenden Landes, das nicht immer wieder von terrorisierenden Banden heimgesucht wird. In Nordsumatra, im westlichen Java, in Borneo, im Süd-celebes und auf den Molukkeninseln herrschen seit Jahren die Aufständischen. Selbst vor Bali, dem Inbegriff fernöstlicher Farbenpracht und friedlichen Lebens, haben die Terroristen nicht haltgemacht. Mit der neuen Freiheit nahm ein unerbitterlicher Bürgerkrieg seinen Anfang und durchzieht seitdem das Land. Kaum ein Drittel des Staatsgebietes mit seinen 70 Millionen Einwohnern befindet sich fest in den Händen der regierenden Macht. Seit der Konstitution der Indonesischen Republik, am 5. November 1946, wurde in den vergangenen neun Jahren weder die Regierung noch das Parlament je durch eine freie Wahl bestätigt; noch haben in dieser Zeit weder die Gesetzgeber noch die Regierenden des Bundesstaates der Kontrolle einer durch freie Volksabstimmung in Kraft gesetzten Verfassung unterstanden.

Der seinerzeit bei der Gründung der Vereinigten Staaten von Indonesien im Unionsvertrag von der holländischen Kolonialmacht durchgesetzte Bundesstaat ist ohne Zweifel ein Danaergeschenk. Die darauf basierende zen-tralistische und dogmatische Politik der mehrheitlich aus Javanern bestehenden Regierung ist weitgehend verantwortlich für die separatistischen Tendenzen, die zu der heutigen Korruption, zu einem unglaublichen wirtschaftlichen Niedergang und einem regelrechten Guerillakrieg geführt haben. Es ist auch beinahe unmöglich, politisch begründete Aufstände von Aktionen krimineller Banden zu unterscheiden. Der Leidtragende ist die Bevölkerung, in deren Dörfern tagsüber die Regierungstruppen ebenso drangsalierend hausen wie nachts die Banditen. Und es ist nicht verwunderlich, wenn vereinzelt gebildete und aufgeweckte Indonesen'der jüngeren Generation sich zynisch äußern: — Unser Land ist so schlecht und so korrupt, daß selbst die Kommunisten es nicht haben möchten!

Obwohl eines der reichsten Länder im Fernen Osten, ist Indonesien heute hoffnungslos heruntergewirtschaftet und von einer zunehmenden Inflation bedroht. Westlich erzogene Intellektuelle behaupten, das Land werde praktisch von drei C beherrscht, und jeder Indonesier kennt diese drei C und braucht sie, wenn er mit seiner asiatischen Geduld am Ende ist. Mit Hilfe dieser drei C kann man buchstäblich alles erreichen; nicht der Händler, nicht der Beamte, ja nicht einmal Armee und Polizei können dieser Wundermacht widerstehen: es sind Zustände, wie bei uns in Europa in jener grausigen Zeit der ersten Nachkriegsjahre! Man lebt sozusagen von diesen drei C: Cigarettes, Corruption und Connections (Beziehungen)! Es ist nur ein kleiner Unterschied: in Indonesien scheinen diese Verhältnisse Dauerzustand zu sein und zu bleiben.

Eine Erlösung von der Herrschaft dieser drei C, Befreiung von dem politischen und kriminellen Terrorismus, erwarten die leidtragenden Volksteile von der durch die ersten demokratischen, freien Wahlen erhofften neuen Ordnung. Von ihr erhofft das Land die Beseitigung aller Mißstände, neuen wirtschaftlichen Aufschwung. Aber es ist eine Hoffnung der Verzweifelten, kindlicher Glaube an ein Wunder.

Das Wichtigste, was Indonesien brauchen würde, ist: eme starke Autorität, eine geschickte Regierung, die es versteht, auf die mächtigen föderalistischen Strömungen einzugehen und Armee und Polizei von einer katastrophalen Korruption zu befreien. Das aber ist eine Forderung, die nicht von heute auf morgen zu erfüllen ist, weil eine kontinuierliche und friedliche Entwicklung vorausgehen müßte. Die neue Regierung Indonesiens sieht sich vor Probleme gestellt, mit denen sie nicht über Nacht fertig werden kann; ihrer harren Aufgaben, für deren Lösung sie Jahre brauchen wird. Wie sollte sie nur — um eines der vielen Probleme zu

nennen — in einigen Wochen oder auch Monaten es fertigbringen, von der Dreiviertelmillion größtenteils korrupter Staatsbeamter eine vollkommen überflüssige halbe Million zu entlassen, ohne dadurch eine gefährliche Empörung bei einigen Millionen der Bevölkerung heraufzubeschwören? Wie sollte sie die für eine wirtschaftliche, politische und geistige Entwicklung dringend nötigen Kaders schaffen, nachdem die Lehrstühle an den wichtigsteh Lehranstalten des Landes, durch die bisherige Haltung gegenüber den früheren (weißen) Lehrkräften, verwaist

sind und die Universitäten die meisten und

wichtigsten Fakultäten schließen mußten? Wie sollte eine Regierung mit einer Armee und einem Polizeikorps, bei denen Korruption Normalzustand ist, dem über die ganze Inselwelt verbreiteten Terror wirksam zu Leibe gehen können?

Indonesien steht vor einem Abgrund. Das ist das Resultat seiner Merdeka, der Freiheit, wie diese unreifen, braunen Menschen sie verstehen, der Freiheit von der verhaßten Vormundschaft des Orang Beiander.'

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