"Bitte vergesst uns nicht!"

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Eine irakische Ordensfrau erlebte hautnah die Flucht der Christen vor dem IS. Zum traurigen Jahrestag berichtet sie vom Kampf ums Überleben.

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Eine irakische Ordensfrau erlebte hautnah die Flucht der Christen vor dem IS. Zum traurigen Jahrestag berichtet sie vom Kampf ums Überleben.

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In der Nacht von 6. auf 7. August 2014 flohen 60.000 Christen aus der Ninive-Ebene um Mossul vor den herannahenden Truppen des so genannten "Islamischen Staates" (IS). Die meisten leben heute unter schwierigen Umständen in der kurdischen Stadt Erbil. Die 38-jährige Dominikanerin Luma Khudher und ihre Mitschwestern arbeiten in den Flüchtlingscamps. Sie lindern humanitäre Not, begleiten die Menschen seelsorglich und führen mehrere Kindergärten.

Die Furche: Was geschah in dieser traumatischen Nacht im August letzten Jahres?

Luma Khudher: Seit Tagen kämpften Truppen des IS und der kurdischen Peschmerga in der Nähe unserer Heimatstadt Karakosch, einer Stadt mit 50.000 Christen. Mit schweren Geschützen beschossen sie einander. In den Wochen zuvor kamen Flüchtlinge aus Mossul und den umliegenden Dörfern zu uns. Dort stellte der IS folgendes Ultimatum: "Entweder ihr konvertiert zum Islam und zahlt uns Steuern oder ihr verlasst die Stadt nur mit den Kleidern, die ihr tragt." Am 6. August wurden in den Morgenstunden zwei Kinder beim Spielen getötet, und wir erfuhren, dass das kurdische Militär die christlichen Dörfer ungeschützt zurückließ. Allen war klar: Wir müssen fliehen. In der Nacht setzte sich ein Tross an Fahrzeugen Richtung Osten in Bewegung. Manche saßen auf den Ladeflächen von Pickups, andere flüchteten sogar zu Fuß. Ich fuhr ein Auto von uns Schwestern und sah nur Menschen, Autos und Staub. Tausende Menschen waren unterwegs. Nach zehn Stunden Autofahrt kamen wir in Erbil an, das im irakischen Kurdengebiet liegt. Noch heute träume ich von den schrecklichen Geschehnissen dieser Nacht.

Die Furche: Und dann?

Khudher: Wir kamen nach Ankawa, ein mehrheitlich christlicher Stadtteil in Erbil mit 25.000 Einwohnern. Und von einem Tag auf den anderen kamen 100.000 Menschen dazu. Es fehlte an allem. Zelte, Essen und Medizin gab es viel zu wenig. Ich erinnere mich an eine Familie mit vier Kindern, zwei von ihnen hatten Diabetes. Die Mutter musste die Diabetesspritzen mehrmals verwenden, weil sie kein Geld hatte, um neue zu kaufen. Die Leute schliefen in Schulen, in leer stehenden Häusern, im Freien und sogar in Kirchen. Es war ein Kampf ums Überleben. Dort sah ich zum ersten Mal Männer auf der Straße weinen. Gleichzeitig war es ein Wunder, dass alle aus unserer Stadt fliehen konnten. Niemand wurde vom IS angegriffen, niemand getötet.

Die Furche: Seither ist ein Jahr vergangen. Was sind die größten Probleme in den Flüchtlingslagern?

Khudher: Die Lage ist organisierter. In unseren Camps muss niemand mehr in Zelten leben. Von der Regierung Kurdistans wurden Container-Dörfer aufgestellt. Internationale Organisationen wie Caritas oder "Kirche in Not" haben viel geholfen. Die Kirche hat einige Häuser für ankommende Familien angemietet. Dort leben sie auf engstem Raum, meist ein Zimmer pro Familie. Die Flüchtlinge können sich die Mieten nur schwer leisten. 1000 Dollar für ein Haus ist sehr viel Geld. Für die Erwachsenen ist es schwierig, Arbeit zu finden. Wir sind zwar im gleichen Land, doch mit einer komplett anderen Sprache. Wenn du nicht Kurdisch kannst, findest du nur schwer einen Job. Ein großes Problem ist die Bildung. Einige Kinder gingen in kurdische Schulen, für eine kleine Zahl konnte die Kirche Unterricht anbieten. Im Herbst sollen endlich weitere Schulen eröffnet werden. Kinder fragen immer: "Wann gehen wir wieder nach Hause?" Einige Familien sind ins Ausland geflüchtet, doch die Mehrheit will zurück in die Heimatstadt.

Die Furche: Was ist Ihre Aufgabe als Dominikanerinnen in dieser Flüchtlingstragödie?

Khudher: Wir sind auch Flüchtlinge und leben in einem Wohncontainer im Flüchtlingscamp. Als Schwesterngemeinschaft haben wir uns entschieden, bei den Menschen zu bleiben und zu helfen. Wir arbeiten immer zu zweit in einem Camp, schauen auf die aktuellen Bedürfnisse und versuchen zu helfen. Jeder Tag bringt neue Probleme. Am Anfang brauchten die Familien Milch und Windeln, das haben wir dann organisiert. Später fehlte es an Decken und Matratzen, und wir haben auf diese Notlage reagiert. Unser Fokus ist die Bildung; wir haben Kindergärten eröffnet. Sie sind für die Kinder wichtig, damit sie eine andere Umgebung haben in dieser schwierigen Situation. Die Kindergärten sind kostenlos, und es kommen sogar einige jesidische Kinder. Wir beten auch mit den Leuten, das ist wichtig für sie.

Die Furche: Haben Sie daran gedacht, das Land zu verlassen?

Khudher: Ich könnte, aber ich will nicht. Als Gemeinschaft der Dominikanerinnen haben wir entschieden, dass wir im Irak bleiben, solange es hier Christen gibt. Auch wenn es nur ein Christ wäre. Wir wollen die Menschen nicht alleine lassen.

Die Furche: Zweifeln die Menschen in einer solchen Situation an Gott?

Khudher: Natürlich haben wir uns alle gefragt: Warum genau wir? Wo ist Gott und warum lässt er das zu? Doch ich kann sagen: Gott ist da. Die vertriebenen Menschen sagen: "Wir hätten all das ohne Gott nicht überlebt." Ich sehe Gott in der erhaltenen internationalen Hilfe oder in den Freiwilligen, die für die Flüchtlinge arbeiten. Ich sehe Gott, wenn zwei Familien miteinander teilen, obwohl beide zu wenig zum Leben haben. Ich sehe Gott in den Pädagoginnen im Kindergarten, die ihre Arbeit ohne Gehalt tun. Ich sehe Gott in jeder unserer Schwestern, die den ganzen Tag in den Camps arbeiten. Gott war mit uns seit der ersten Minute, als wir unsere Heimat verließen.

Die Furche: Was sind Hoffnungszeichen?

Khudher: Geburten. Drei Tage nach der Ankunft im Flüchtlingslager kam das erste Baby auf die Welt. Ein Hoffnungszeichen war für mich auch die Erstkommunion von 400 Kindern vor wenigen Wochen in unserer kleinen Kirche. Immer mehr spüre ich, dass die Leute das Leben wieder selbst in die Hand nehmen, trotz aller Probleme.

Die Furche: Was können Menschen in Europa für die Verfolgten im Irak tun?

Khudher: Bitte vergesst uns nicht! Die Flucht war vor einem Jahr, und die Welt scheint uns zu vergessen. Sagt es auf Facebook und Twitter weiter, wie es den Christen im Irak geht. Wir sind weiterhin dort und versuchen zu überleben. Wir brauchen materielle Hilfe. Ihr könnt Spendenprojekte organisieren oder Materialien wie Malbücher für unsere Kinder sammeln und schicken. So zeigt ihr den Menschen im Irak: Wir denken an euch. Bitte betet für uns, dass unser Glaube gestärkt werde. Der Glaube gibt uns Kraft in diesen Schwierigkeiten.

Die Furche: Wie können die IS-Angreifer gestoppt werden?

Khudher: Die irakische Regierung schafft es allein nicht. Ihre Aufgabe wäre es, ein friedvolles Land zu garantieren und die Städte zu befreien, die der IS erobert hat. Doch dieses Ziel ist sehr weit entfernt. Es ist ein Problem der Weltgemeinschaft und muss von den Regierungen der Welt gelöst werden, nicht nur vom Irak. Seit einiger Zeit gibt es Luftangriffe auf IS-Stellungen wie Mossul, doch Verbesserungen sind nicht wahrnehmbar.

Die Furche: Sind Friede und Versöhnung möglich?

Khudher: Das Problem ist, dass die Menschen den eigenen Nachbarn nicht mehr vertrauen. Es braucht viel Zeit, um vergeben zu können. Ich hasse Muslime nicht, aber ich habe Angst. Es gibt diese Extremisten, die Jesiden, Christen und sogar Schiiten bekämpfen. Gleichzeitig müssen wir uns in Erinnerung rufen, dass es viele Muslime gibt, die ihren Glauben in Einfachheit leben. Wir alle wollen einfach nur in Frieden leben. Es wird noch ein langer Weg.

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