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Denken in Längs- und Querschnitten

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Wahrscheinlich denken Hunderttausende Österreicher und Österreicherinnen in diesen Tagen an Sarajewo und an die Menschen in den Kellern, an Kinder, schwangere Frauen, an die Verletzten, denen nicht geholfen werden kann, an alte Menschen, an die Toten, die irgendwo liegen, und an das Elend derer, die sich durch Flucht in Sicherheit bringen wollten und für ihr Überleben Not, extreme Unsicherheit, Armut, Heimatlosigkeit hinnehmen und aushalten müssen. Die Spendensumme wächst, man täte Österreich unrecht, sähe man es immer nur im Lotto-Fieber liegen.

Wenn der Flughafen von Sarajewo endlich geöffnet werden kann, wenn die Hilfslieferungen dort eintreffen, wo sie gebraucht werden, wenn die Mörder, Brandstifter, Plünderer, Folterer endlich zur Räson gebracht werden können, werden wir erfahren, wieviele Menschen durch den Krieg umgekommen sind, wo welche Schwerverletzten zur Behandlung untergebracht werden konnten, welche Zeltstadt bezogen werden kann, wann der letzte Brand gelöscht wurde (gelöscht worden sein wird), welche Zugsverbindungen bereits wieder möglich sind. Unsere Spendenfreudigkeit wird bis dahin bereits wieder abgenommen haben, die Lage beginnt sich ja zu „normalisieren", der ORF wird vielleicht die Spendenaktion beenden, Caritas und Rotes Kreuz werden Mühe haben, weiterhin Geld aufzutreiben, so viel, wie weiterhin gebraucht werden wird, wir sind ja eine querschnitt-gelähmte Gesellschaft.

Ich meine damit: Statistiken, Meinungsumfragen, Prognosen, Szenarios, alle diese Zusammenfassungen sind Querschnitte, in denen jeder einzelne Mensch zu einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens als Teil einer Summe, eines Prozentsatzes vorkommt. Zahl der Arbeitslosen, Zahl der Berufstätigen, Zahl der Pensionisten, Zahl der Scheidungen und so weiter. An dieses Denken in Querschnitten haben wir uns so gewöhnt, wie wir uns das Denken in „Lebensgeschichten" abgewöhnt haben.

Lebenslange Kriegsfolgen

Die Kinder, die jetzt in Sarajewo in den Kellern über-leben, werden an den Folgen dieses Krieges mehr oder weniger schwer bis an ihr Lebensende leiden, nicht an dem „Krieg", am „Zerfallsprozeß", an „Nationalitätenkonflikten" oder an einer „Verhetzung", sondern an dem, was sie mitangesehen und -gehört, -gespürt, mit-ausgehalten haben, irgendwie lebendig überstanden haben, weil eine Überlebens-Hilfe nicht zu spät gekommen ist. Auch wenn die Bilanz dieses Krieges grauenhaft sein wird, sie wird sich ziehen lassen und wird etwas von einer „Bilanz" haben, zu-mindestfürunserBewußtsein. Soundso viele tausend Tote, Verwundete, bleibend Verstümmelte, soundso viele Vollwaisen, Halbwaisen, soundso viele zerstörte Wohnstätten und so weiter, und die unfaßbaren Rechnungen werden leisten, was sie tatsächlich können: etwas wie „Abschluß" suggerieren, Abschluß des Schlachtens, Abschluß des Chaos, der Krieg ist aus, wir haben gespendet und können uns mit gutem Gewissen erfreulicheren Dingen zuwenden.

Im „Längsschnitt", der Lebensgeschichte des Einzelmenschen nach, wird dieser Krieg für viele, für Millionen Menschen nie etwas werden, wovon sie sich abwenden können, zu einem anderen Sammelpunkt ihres Interesses hin. „Interessiert" hat sich von den Betroffenen wohl kaum jemand für das Vegetieren in einem Keller, unter Dauerbeschuß, oder für die Flucht, oder für die Massakrierten, oder für das eigene zerstörte, ausgeplünderte Haus. Man müßte die Menschen, die das alles überleben, überstehen, nicht nur bei der Rückkehr in die Ruinen zeigen, sondern in einem Jahr, in drei Jahren, in fünf Jahren, immer wieder befragen, nicht nur einer historischen Wahrheit nach, auf der Suche nach Fakten, und nicht nur über eine Besserung ihrer Situation, ob sie schon wieder Wasser haben und ob sie Arbeit haben und die Fenster verglasen lassen konnten, und ob sie noch auf dem Boden schlafen oder eh schon in Betten, sondern darüber, wie sie mit dem Erlebten leben, wie sie sich fühlen und wie es ihnen mit den Erinnerungen geht, nein: mit den Alpträumen, Schreikrämpfen der Kinder, mit der Raumangst, mit Brandgerüchen und Explosionsgeräuschen, mit den Rußspuren an den Mauern und den noch immer vorhandenen Kellern, und ob sie Ausflüge machen können in eine Landschaft, aus der man auf sie geschossen hat, und ob sie die Toten vergessen haben, vergessen können, die ganze Kriegs-Berichterstattung müßte über das Ende der Kampf-„Handlungen" hinaus fortgesetzt werden, in Querschnitten, ja, notgedrungen, aber dem Längsschnitt einzelner Lebensgeschichten nach.

Auch wenn es scheußlich ist, daß ich so etwas sage, jetzt, während der Kämpfe noch, während die Menschen dort krepieren schon über das Ganze hinausdenke, weiter, auch wenn es arrogant ist, fühle ich mich dabei wohler, als wenn ich es nicht sage, weil es mir dabei um unsere „Quer-schnitf'-Lähmungen geht. Die Medien senden und berichten auf jeden Fall weiter, so oder so.

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