Ein Jahrzehnt der Zerstörung

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Vor zehn Jahren provozierte die Besetzung Kuwaits durch den Irak den größten internationalen Konflikt seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Invasion wurde binnen kurzer Zeit gewaltsam beendet. Geblieben sind die Strafsanktionen, unter denen die Iraker anstelle ihres Diktator Saddam Hussein ein "permanentes Kosovo" durchleiden.

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Vor zehn Jahren provozierte die Besetzung Kuwaits durch den Irak den größten internationalen Konflikt seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Invasion wurde binnen kurzer Zeit gewaltsam beendet. Geblieben sind die Strafsanktionen, unter denen die Iraker anstelle ihres Diktator Saddam Hussein ein "permanentes Kosovo" durchleiden.

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Es war zwei Uhr morgens. Man schrieb den 2. August 1990. Da stürmten im Schutz der Nacht bewaffnete Kolonnen der irakischen Armee gen Süden. Binnen weniger Stunden hatten sie den steinreichen Ölstaat Kuwait in ihrer Gewalt. Emir Jaber al Sabah eilte in einer schusssicheren Limousine nach Saudi-Arabien. 800 Kuwaitis starben in den ersten zwei Tagen der Invasion, mehr als 600 sind bis heute vermisst. Die Uno verhängte die folgenschwersten Sanktionen ihrer Geschichte. Dennoch deklarierte Iraks Herrscher Saddam Hussein am 23. August Kuwait zur 19. Irakischen Provinz.

Doch der Diktator hatte sich verrechnet. Die Welt begnügte sich nicht mit verbalen Protesten gegen diesen ungeheuerlichen Piratenakt. Der Raub Kuwaits provozierte den größten internationalen Militärkonflikt seit dem Zweiten Weltkrieg. Am 17. Februar 1991 befreite eine von den USA geführte internationale Allianz das Emirat. Heute erstrahlt Kuwait in neuem Glanz.

Am Tigris aber sitzt der "arabische Hitler" (so der damalige US-Präsident Bush über Saddam Hussein) immer noch im Sattel, fester denn je. Der Aggressor, der die ganze Welt in Atem hielt, ist heute laut "Forbes"-Magazin der siebtreichste Staatschef der Welt. Sein Volk aber versinkt in bittererArmut.

Domino und Fußball als letzter Lebenssinn Im Schutz der Palmen trifft sich Bagdads männliche Jugend Abend für Abend am Tigris. In den Cafes, die sich am träge dahinfließenden Strom aneinanderreihen, spielen sie Domino. Wie besessen konzentrieren sie sich auf die weißen Steine, als böten sie ihnen den Lebensinhalt. Manchmal leistet sich der eine oder andere Junge eine Wasserpfeife, ein Pepsi. Für mehr reicht das Budget nicht. Domino und Fußball sind die einzigen Vergnügungen, in die sich die von der internationalen Gemeinschaft kollektiv für die Untaten Saddams bestrafte irakische Bevölkerung heute stürzt. Sie verhindern das Gespräch in einer vom Diktator mit voller Brutalität bis in die geheimsten Winkel kontrollierten Gesellschaft, blockieren das Denken und helfen damit, die Qualen des Daseins - wenigstens vorerst - zu überstehen. Denn, so beschreibt der 32-jährige Ahmed den Seelenzustand vieler Iraker: "Wenn ich denke, werde ich verrückt. Deshalb tue ich was ich kann, damit ich nicht denken muss." Eine tiefe Hoffnungslosigkeit hat die Menschen im Zweistromland erfasst, treibt viele in erschreckende Apathie, in eine Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben und seinen Werten, die um die Zukunft dieses Volkes fürchten lässt.

Dabei zählten die Iraker einst zu den höchstentwickelten arabischen Völkern. Die Menschen genossen einen Lebensstandard, der beinahe jenem von Industrieländern entsprach, mit kostenlosem Bildungs- und Gesundheitswesen von hoher Qualität. Heute betteln die Spitäler um Blutkonserven, um die allernötigsten sanitären Einrichtungen, um Injektionsnadeln und Aspirin. Den Schulen fehlt es an Bleistiften und Papier. Wasserleitungen bersten und rosten und eine katastrophale Trockenheit verschärft die Krise dramatisch. Die diesjährige Gemüseproduktion liegt um 50 Prozent unter jener von 1998. Das UNO-Programm "Öl für Nahrung", das dem Irak seit kurzem den unbegrenzten Export von Öl gestattet, jedoch den Import von Nahrungsmitteln und Medikamenten scharf kontrolliert, verhinderte wohl eine Massen-Hungersnot. In Wahrheit aber "gleicht es einem Pflaster, das man auf ein Holzbein klebt", meint einer der wenigen in Bagdad residierenden westlichen Diplomaten. "Wir durchleben ein permanentes Kosovo", ruft eine Irakerin gequält aus. Dennoch verstand es Saddam, die Not seines Volkes, den durch Krieg und Sanktionen bewirkten sozialen Zerfall zur Stabilisierung und Stärkung seines Regimes zu missbrauchen.

"Wie kann das die Welt akzeptieren?"

Das Embargo, analysiert die Ökonomin und Schriftstellerin Naserah al Saddoun, "ist die stillste, die unauffälligste Methode, ein ganzes Volk auszulöschen. Ich begreife nicht, wie die Welt dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit, im Namen der UNO verübt, akzeptieren kann."

Manche können es nicht. Zu ihnen zählt der ehemalige Koordinator des "Öl-für-Nahrungs"-Programms Dennis Halliday, der 1998 sein Amt aus Protest gegen die Sanktionen mit ihren "genoziden Folgen" zurücklegte. Sein Nachfolger Hans von Sponeck tat es ihm kaum ein Jahr später gleich (vgl Im Gespräch H. v. Sponeck : furche Nr. 23/2000). Der britische "Economist" bemerkte damals, während Hallidays demonstrativer Rücktritt noch "interessant" erschien, ist jener Sponecks eine "Anklage". Selbst Richard Butler - der von Bagdad als "Erfüllungsgehilfe der USA" verteufelte ehemalige Chef der UN-Abrüstungskommission für den Irak,UNSCOM - gestand jüngst ein, dass die Sanktionen "paradoxerweise dazu beitragen, Saddam an der Macht zu halten". Doch Washington ist weit davon entfernt, das Scheitern dieser Strategie einzugestehen und eine Alternative zu entwickeln, die ein unschuldiges Volk verschonen würde.

Langes Warten auf den Sturz Saddams Die USA sind längst vom ursprünglichen Ziel der Sanktionen - die Zerstörung aller irakischen Massenvernichtungs-Waffen - abgerückt und wollen nach Einschätzung informierter US-Kreise "sich mit nicht weniger begnügen als dem Sturz Saddam Husseins". Denn, dass der Irak heute wirklich noch eine militärische Bedrohung für seine Nachbarn darstelle, vermag niemand mehr zu bestätigen. Wiewohl Bagdad im Juli eine ihm laut Waffenstillstandsbedingungen erlaubte Kurzstreckenrakete testete, gelang es ihm nicht, sich militärisch von der vernichtenden Niederlage des Kuwait-Krieges zu erholen: "Die irakischen Panzer schrecken heute niemanden mehr außerhalb des Landes", analyisiert ein unabhängiger Militärexperte. Sie schrecken freilich weiterhin die von der Welt bestrafte Bevölkerung. Der frühere UNSCOM-Inspektor Scott Ritter erklärte Anfang Juli, dass der Irak schon seit 1997 keinerlei Massenvernichtungsmittel mehr besitze.

Dennoch knüpft die UNO weiterhin die Aufhebung der Sanktionen an eine offizielle Bescheinigung der vor einem Jahr neugegründeten Abrüstungskommission "UNMOVIC", dass der Irak keinerlei gefährliche Waffen mehr besitze. Doch UNMOVIC konnte seine Arbeit bis heute nicht aufnehmen, und das offizielle Bagdad will die Inspektoren "niemals" ins Land lassen.

Ein Ausweg zeichnet sich nicht ab. Der Konflikt hat längst bilateralen Charakter angenommen. Mehrmals pro Wochen fallen amerikanische, manchmal auch britische Raketen aus Aufklärungsflugzeugen über den Flugverbotszonen im Norden und Süden des Landes auf militärische Ziele. Meist treffen sie Zivilisten. Mehr als 300 Tote und 800 Verletzte forderte dieser stille Abnützungskrieg allein im Vorjahr. Und er geht unvermindert weiter.

In der Region aber lockert sich die Isolation des Iraks. Als vierter arabischer Golfstaat nahmen jüngst die Vereinigten Arabischen Emirate wieder volle diplomatische Beziehungen zu Bagdad auf. Der Ruf nach einem Ende der Ächtung wird immer lauter. Doch für viele mag es zu spät sein. Hassan ist 35. Wie Hunderttausende Iraker zwischen 30 und 40, musste er im Krieg gegen den Iran (1980 bis 1988) kämpfen. Er wurde verwundet. Anschließend zwang man ihn zum militärischen Einsatz gegen Kuwait. "Die Hälfte meiner Freunde starb vor meinen Augen durch iranische Kugeln, die andere Hälfte trieben die Sanktionen ins Ausland." Heute nimmt kaum ein westliches Land mehr einen Iraker auf. Hassan bleibt daheim. Arbeit findet der absolvierte Ökonom keine. Eine Frau, eine Familie kann er sich nicht leisten. "Bald ist es für alles zu spät. Mein Leben ist zerstört. Wofür?"

Der Sinn für Werte ist verloren gegangen "Das Schlimmste aber ist", klagt der Philosoph und Dominikanerpater Youssef Mirkis, "die Sanktionen zerstören die Seele der Menschen." Im Kampf um das nackte Überleben haben viele Iraker den Sinn für Werte verloren. Kriminalität, oft in brutalster Ausprägung, hält die Bevölkerung in Schrecken; Korruption, bis vor einem Jahrzehnt kaum praktiziert, treibt Hochblüten wie kaum sonstwo in der Welt. Und mindestens eine Generation hat ihre Zukunft verloren.

Der von westlichen Ländern verfügte totale Abbruch auch kultureller Beziehungen (durch die Sanktionen keineswegs vorgeschrieben) steigert ein Gefühl, von aller Welt geächtet zu sein. "Wir hassen niemanden", ruft Saddoun verzweifelt aus, "Auch wir sind Menschen. Wir sind Menschen. Wir wollen nichts anderes, als endlich in Ruhe und Frieden leben."

Die Autorin ist Nahost-Korrespondentin verschiedener Tages- und Wochenzeitungen.

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