Wo man hinschaut: Bruchlinien

Werbung
Werbung
Werbung

Streit zwischen Kurden, Schiiten und Sunniten, dazu lokale Konflikte, dazu eine militärisch wie moralisch gescheiterte Besatzungsmacht, die nach dem günstigsten Moment für den Abzug Ausschau hält - wie da noch an eine bessere Zukunft für den Irak glauben?

Jeder Versuch, über die letzten drei Jahre der amerikanischen Besatzung im Irak eine Bilanz zu ziehen, läuft Gefahr, zur Wiederholungsübung zu verkommen, so bekannt sind die Tatsachen mittlerweile geworden: Die Volksgruppen im Irak driften, drei tektonischen Platten gleich, weiterhin auseinander, die allgemeine Lage, insbesondere die Sicherheitslage, bleibt nach wie vor katastrophal, und weder die Regierung noch die usa und ihre Verbündeten sind in der Lage, die Situation zu meistern. Nichtsdestotrotz finden wohlmeinende Beobachter freundliche Worte für die Tatsache, dass dem Irak eine Verfassung verpasst wurde und nun auch in diesem Land freie Wahlen stattfinden konnten, auch wenn diese nicht unbedingt westlichen Standards entsprachen und der Prozess der Regierungsbildung viel Zeit braucht - Zeit, die der Irak vielleicht gar nicht mehr hat.

USA & Iran wollen Stabilität

Die beiden Punkte: Verfassung und Regierungsbildung sind für die irakische Zukunft entscheidend. Zumindest für jenen Aspekt der Zukunft, welchen man den Iraker erlaubt, selbst zu bestimmen. Gleichzeitig sind es auch jene Punkte, über die in der internationalen Gemeinschaft - und auch zwischen den usa und dem Iran - weitgehend Übereinstimmung herrschen. Sowohl Teheran als auch Washington wünschen sich eine stabile und berechenbare Regierung in Bagdad - wenn auch keine allzu mächtige. Teheran, weil es Angst vor einem Überschwappen der allgemeinen Unsicherheit und Kriminalität im Zweistromland auf seine Grenzprovinzen hat. Washington wiederum weiß, dass nur halbwegs geordnete Verhältnisse einen Abzug aus dem Irak ohne Ansehensverlust erlauben.

Ein irakischer Bürgerkrieg?

Allerdings sieht es kaum danach aus, dass in absehbarer Zeit geordnete Verhältnisse einkehren würden. Im Gegenteil, immer mehr Kommentatoren nehmen das Unwort vom irakischen Bürgerkrieg in den Mund. Zur Zeit scheint man nur mehr darüber zu diskutieren, ob er schon ausgebrochen ist oder ob der große Bruch zwischen Schiiten und Sunniten erst bevorsteht. Bis jetzt hielten sich die schiitischen Parteien mit Gegenschlägen gegen Sunniten zurück, doch der Bruch zwischen den beiden islamischen Konfessionen scheint bereits unüberbrückbar - ein Novum in der irakischen Geschichte!

Der von der Ex-Baath-Partei und radikalen Sunniten geprägte irakische Widerstand hat zwei Hauptziele: die Koalitionstruppen und alte politische Feinde wie die beiden dem Iran nahen schiitischen Parteien: Da'wa und sciri, nicht aber Muqtada Sadr und seine Anhänger. Ausländische Islamisten aus Europa oder der Region spielen eine geringe Rolle und werden meist als Fußsoldaten eingesetzt. Vollkommen dubios bleibt die Rolle eines gewissen Abu Musaib Zarqawi, der sich mit Al Kaida verbündet haben soll. Seine vermeintliche oder tatsächliche Präsenz im Irak wird wohl von anderen Gruppen dazu benutzt, um auf ihn die Verantwortung für die grausamsten Bombenanschläge abzuwälzen.

Im Zusammenhang mit dem täglichen Terror wird ein wichtiger Aspekt vergessen: die Bedeutung der Wiedereinbindung der irakischen Sunniten in den Staatsapparat. Im Gegensatz zu den Kurden und Schiiten verfügen die Sunniten über wenig repräsentative Parteien. Dieser Nachteil wurde durch den sunnitischen Wahlboykott im Jänner 2005 verschärft. Und im Prinzip ist auch die neue Verfassung ein Werk, das von den schiitischen und kurdischen Parteiführern im Hinterzimmer beschlossen wurde.

Kurden & Schiiten zuerst

In der Verfassung gibt es viele widersprüchliche Paragraphen: Das trifft vor allem auf jene Artikel zu, die den Föderalismus regeln. So sind Demokratie und Menschenrechte auf gesamtstaatlicher Ebene wortreich garantiert, wie der einzelne Bürger im lokalen Bereich aber zu seinem Recht kommen soll, bleibt ungeklärt. Lokale Administrationen und Gerichte werden von den jeweiligen Parteien dominiert, seien es die kurdischen Nationalisten im Norden oder die schiitischen Fundamentalisten im Süden. In beiden Fällen handelt es sich um eine milde Form der Einparteienherrschafft auf regionaler Ebene.

Als einziges politisches Mittel für eine dauerhafte Lösung der Krise bleiben die innerirakischen "Verhandlungen", die auf absehbare Zeit in einer Kombination aus brutaler Gewalt, relativ freien Wahlen, dem Verfassungsrevisionsprozess und ausländischer Einflussnahme bestehen werden.

US-Ausschau nach Abzug

Die amerikanische Politik ist jedenfalls gescheitert und die usa müssen einen doppelten Ansehensverlust hinnehmen: Einerseits als militärische Macht, der es nicht gelingen will, einer fremden Bevölkerung ihren Willen aufzuzwingen, andererseits als moralische Großmacht, deren Ruf durch die schrecklichen Bilder von Abu Ghraib riesigen Schaden genommen hat. Den usa bleibt zur Zeit nur eine Strategie: Den günstigsten Augenblick für einen Abzug abzuwarten und möglichst viel Verantwortung für ihre Hinterlassenschaft anderen Akteuren, der uno und der eu, zuzuschieben. Die eu aber hat ein anderes Interesse an der Region als die Amerikaner, bei denen geostrategisch-energiepolitische Überlegungen die Hauptrationale sind. Die eu fürchtet, dass über den Irak hinaus der gesamte östliche Mittelmeerraum bis nach Afghanistan hin destabilisiert werde und diese Lage auf die Türkei und letztlich auf Europa überspringen könnte.

Selbst Optimisten sehen derzeit wenig Hoffnung für die Zukunft des Landes. Allerdings darf man nicht Opfer einer Simplifizierung werden: Die Bruchlinien, entlang denen die Gewalt im Irak explodieren kann, sind nicht nur horizontal zwischen Kurden, Schiiten und Sunniten, sondern auch vertikal zwischen jenen Organisationen, die aus dem Exil nach Irak zurückgekommen sind und jenen, die im Irak gebildet wurden. Dazu kommen lokale Konflikte wie in Kirkuk, dessen kurdische aber yezidische Bevölkerung sich gegen die Einvernahme durch kurdische Nationalisten wehrt. Fügt man dem noch die allgemeine Antipathie der arabischen Staaten gegen einen schiitisch dominierten Irak und gegen den schiitischen Iran hinzu, so bleibt nur die Schlussfolgerung, dass - ohne die irakischen Verhältnisse in irgendeiner Weise geordnet zu haben - einer westlich-arabischen Konfrontation mit dem Iran nichts mehr im Wege steht.

Der Autor, Irak-Spezialist, forscht am Europäischen Institut für Sicherheitsstudien in Paris.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung