"Vor meiner eigenen Angst gefürchtet"

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Forum Sacré Cœur: Gudrun Harrer, leitende Redakteurin beim "Standard", sprach mit den Schülerinnen und Schülern über ihre Arbeit als Außenpolitik-Journalistin und ihre Tätigkeit als Sondergesandte im Irak während der österreichischen EU-Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2006.

Hat Ihre diplomatische Tätigkeit Ihre Sicht auf den Irak verändert?

Gudrun Harrer: Ich habe viel erfahren und erlebt, wodurch sich allerdings nur meine fachliche Einschätzung bestätigte. Meine Sicht hat sich insofern verändert, als ich mehr Empathie und Verständnis den Institutionen gegenüber, die ich früher kritisiert habe, entgegenbringen kann, wie z.B. der Amerikanischen Botschaft. Ich bin weiterhin davon überzeugt, dass die Lage im Irak nicht hoffnungslos ist. Es ist eine Art "Iraqiness", ein irakisches Nationalgefühl, das dazu führt, dass das Volk friedlich zusammenbleiben will und dass, auch wenn immer wieder vehemente Konflikte ausbrechen, am Ende die Vernunft siegt. In Mossul im Jahre 1959 beispielsweise riss ein Konflikt zwischen Kommunisten und Nationalisten tief liegende Gräben auf und brachte Auseinandersetzungen innerhalb der irakischen Gesellschaft zum Vorschein, von deren Existenz niemand wusste. So vielschichtig die Konflikte auch sein mögen, die Iraker schaffen es immer wieder, sich zu vereinen.

Halten Sie das Szenario eines Zerfalls des Staates in einen kurdischen Norden, schiitischen Süden und sunnitischen Rest für wahrscheinlich?

Harrer: Ein Thema, das medial fast nicht erwähnt wird, ist der Streit um die Südgrenze der kurdischen Region, die sowohl von den Kurden, als auch den Arabern und Turkmenen beansprucht wird. Die kurdische Führung tendiert zu einem "feindlichen" Referendum, in dem über die Regionen abgestimmt wird, ohne vorher eine Lösung mit den anderen Parteien auszuhandeln. Nach dem Prinzip "the winner takes it all" sollen die Gebiete den Kurden übergeben werden, wenn 51 Prozent mit "Ja" stimmen. Da das zu einem neuen Krieg führen könnte, ist diese Situation für mich eine der am meisten unterschätzten zukünftigen Konflikte im Irak. Weiters leben meiner Einschätzung nach ca. 40 Prozent der irakischen Bevölkerung in jenen Landesteilen, in denen alle drei Volksgruppen aufeinandertreffen. Eine Trennung dieser Gebiete würde sicherlich nicht unblutig verlaufen. Bagdad ist das nächste Problem: Obwohl fast alle Stadtviertel bereits entweder den Sunniten oder den Schiiten zuzuordnen sind, liegen zwei religiös-historische Stadtviertel in der "falschen Zone". So liegt das wichtige sunnitische Viertel im schiitischen Teil und umgekehrt.

Es wird immer wieder der Abzug der US-Truppen aus dem Irak gefordert. Würde das zu einer Stabilisierung führen oder würde dann der Staat im Chaos versinken?

Harrer: Die USA sind sowohl ein Teil des Problems als auch der Lösung. Ich persönlich bin nicht für einen raschen Abzug der Truppen, da die Iraker sonst übereinander herfallen würden, im Versuch, die Kontrolle zu übernehmen. Man müsste den Amerikanern und den Irakern eine Perspektive stellen, damit Schritte zur Veränderung gesetzt werden können. Es darf aber kein genaues Abzugsdatum genannt werden, weil dann machtgierige Personen nur auf diesen Stichtag warten würden. Die Amerikaner haben nun eine Verantwortung, die sie wahrnehmen müssen. Es geschehen jedoch derzeit einige beunruhigende Dinge, wie die amerikanische Unterstützung der sunnitischen Stammesführer mit Waffen im Kampf gegen Al-Qaida. Es klingt logisch, jemanden zu unterstützen, der gegen den Feind kämpft. Doch es ist auch gefährlich, denn wir wissen nicht, ob diese Milizen nur gegen Al-Qaida kämpfen, ob sie sich später in die gewählte Regierung integrieren und was ihre Forderungen sein werden.

Hatten Sie trotz der Sicherheitsvorkehrungen Angst, Opfer einer Entführung zu werden?

Harrer: "Angst" ist nicht das richtige Wort, denn sonst würde man eine solche Arbeit nicht machen. Allerdings habe ich mich vor meiner eigenen Angst gefürchtet, weil ich ja nicht wusste, wie ich in einer Gefahrensituation reagieren würde. Selbst die Sicherheitsmänner bewegen sich in ihrer letzten Woche nicht mehr außerhalb der Sicherheitszone, um ihr Glück nicht herauszufordern. Man ist ständig nervös und lebt unter Hochspannung, die allmählich in Verzweiflung und Erschöpfung übergeht.

Spiegeln die Medien die wahre Lage im Irak wider?

Harrer: Da es heute kaum noch westliche Journalisten gibt, die "on the ground" sind, wird die Berichterstattung schwieriger. Nun arbeiten viele irakische Journalisten undercover für ausländische Zeitungen, da für Ausländer die Entführungsgefahr zu groß ist. Natürlich entstehen manchmal Fehler. Meist aus dem Grund, dass man hinsichtlich der vielschichtigen Konflikte den Überblick verliert und sie schwer einschätzen kann.

Redaktion: Natalie Staniewicz und Nicole Krysiuk (8c)

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