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Schiitenvertreibung

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Teheraner Regierungsstellen reagieren mit zunehmender Besorgnis auf die aggressive Minderheitenpolitik des arabischen Nachbarlandes Irak. Militärdiktator General Achmed Hassan el-Bakr hatte dort nach dem Sechstagekrieg von 1967 zunächst die noch etwa zweitausendfünfhundert Seelen zählende jüdische Gemeinde, die ihre Ursprünge fünftausend Jahre bis auf den chal-däischen Erzvater Abraham und auf die babylonische Gefangenschaft der Bibel zurückführt, grausam wie ein mittelalterlicher Despot verfolgen lassen. Den Familienvätern entzog man die Arbeitserlaubnis, die Vermögen wurden beschlagnahmt, und es kam zu Massenverhaftungen, Schauprozessen wegen niemals erwiesener Spionage für den Zionismus, Folterungen und dem abstoßenden Theater öffentlicher Hinrichtungen. Der Vernichtung des traditionsreichen irakischen Judentums, das mit den Juden Palästinas kaum in Verbindung gebracht werden konnte, folgt gegenwärtig die gewaltsame Vertreibung der schiitisch-muselmanischen Minderheit des Zweistromlandes. Eine Viertelmillion Schiiten lebte bislang im Irak. Sechzig- bis siebzigtausend von ihnen mußten jedoch bereits, auf plötzlichen Befehl der Bagdader Behörden, ihre angestammten Heimstätten verlassen und suchten Zuflucht im benachbarten Iran. Sie mußten meistens ihre gesamte Habe zurücklassen, ihr unbeweglicher Besitz wurde ohnehin beschlagnahmt, und man verfrachtete sie in unzulänglicher Bekleidung und ohne jegliche Verpflegung auf Armeelastwagen und transportierte sie zur Grenze.

Die Schiiten sind, obwohl sich nur etwa acht Prozent der Muselmanen zu ihrer Lehre bekennen, die zweite bedeutende Konfession des Islams. Die Unterschiede zwischen ihnen und der Mehrheitskonfession der Sunniten lassen sich etwa mit den zwischen Katholiken und Protestanten im Christentum vergleichen. Während die Sunniten (der Begriff bedeutet Herkommen oder Brauchtum) auf die in der sogenannten „Hadith“ gesammelten Überlieferungen über das Leben des Propheten Mohammed und Auslegungen der Korantexte stützen und die Kalifen als rechtmäßige Nachfolger des Propheten betrachten, lehnen die Schiiten (der Begriff bedeutet Partei) diese Tradition ab und betrachten den im Jahr 661 unserer Zeitrechnung ermordeten Kalifen Ali, der die Prophetentochter Fatima geheiratet hatte, und seine Nachkommen als rechtmäßige Beherrscher der Gläubigen.

Traditionelles Verbreitungsgebiet der Schia sind Persien, wo sie als Staatsreligion angesehen werden kann, und der Irak. Bezeichnenderweise befindet sich der schiitische Hauptwallfahrtsort Kerbela, wo Alis Sohn Hussein begraben liegt und alljährlich eine der ergreifendsten religiösen Bußprozessionen mit blutigen Selbstkasteiungen der Wallfahrer stattfindet, im (irakischen) Euphrat-tal.

Die Bagdader Regierung blieb bisher jede Ellklärung für die von ihr ausgelöste Vertreibung der irakischen Schiiten aus ihren traditionellen Heimatgebieten im Zweistromland schuldig. Im Iran nimmt man an, daß Militärdiktator el-Bakr religiöse Gründe vorschieben wird. Das Verhältnis zwischen der sunnitischen Mehrheit und der schiitischen Minderheit war im Irak nie ganz ohne Spannungen. Schon einige irakische Regierungen entgingen nicht der Versuchung, die beiden Volksgruppen gegeneinander aufzuhetzten, um die Gegensätze ihren eigenen Zielen nutzbar zu machen. Die organisierte Massenaustreibung stellt jedoch selbst die im Orient gewohnten Grausamkeiten weit in den Schatten.

Persien will alles tun, um den vertriebenen Glaubensbrüdern eine neue Heimat zu bieten. Behörden und Streitkräfte kümmern sich vorbildlich um die Flüchtlinge. Diese sollen in einem Gebiet zweitausend Kilometer von der irakischen Grenze entfernt angesiedelt werden. Teheraner Quellen zufolge sieht man die wahre Ursache für die Bagdader Politik gegenüber den Schiiten in den latenten politischen Spannungen zwischen dem Irak und dem Iran. Einer ihrer Gründe ist der Streit um den Grenzverlauf im sogenannten „Schaft el-arab“. Auch die Besetzung dreier bisher arabischer Inselchen von enormem strategischem Wert im Persischen Golf und der Versuch Schah Mohammed Rezas, eine antiimperialistische Achse Islamabad— Teheran—Riad zustarudezubringen, stößt auf heftigen Bagdader Widerstand. General el-Bakr scheint die Schiiten, obwohl sie zweifelsfrei irakische Staatsbürger sind, als „fünfte Kolonne“ des iranischen Kaisers anzusehen und deshalb loswerden zu wollen. In der iranischen Hauptstadt läßt man keinen Zweifel daran, daß man auch vor militärischen Offensivmaßnahmen nicht zurückschreckt, falls die Verfolgung der Glaubensbrüder in dem krisengeschüttelten Nachbarland anhält.

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