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KONKURRENZ IN DER DIASPORA

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Der Mangel an einer kirchlichen Hierarchie öffnet Abenteurern Tür und Tor. Die Diasporasituation verschlimmert das noch; denn hier konstituieren sich ja völlig neue Gemeinden aus Menschen, die oft bunt zusammengewürfelt werden. Viele Moscheegemeinden sind multinational. Afghanen, Ägypter, Iraner, Pakistaner, Palästinenser und Senegalesen mischen sich bisweilen an ein und derselben Moschee zu einer Gemeinde.

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Der Mangel an einer kirchlichen Hierarchie öffnet Abenteurern Tür und Tor. Die Diasporasituation verschlimmert das noch; denn hier konstituieren sich ja völlig neue Gemeinden aus Menschen, die oft bunt zusammengewürfelt werden. Viele Moscheegemeinden sind multinational. Afghanen, Ägypter, Iraner, Pakistaner, Palästinenser und Senegalesen mischen sich bisweilen an ein und derselben Moschee zu einer Gemeinde.

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Der sunnitische Islam kennt im allgemeinen keine Kirche. Eigentlich sollen die Moslems eine Gemeinde bilden, in der alle Laien Imame sind, und damit alle Imame Laien. Es gibt also kaum Posten zu verteilen, aber jeder Dritte ist ein Anwärter auf eine Führungsposition. Das führt zu immer neuen grotesken Auswüchsen und unerquicklichen Rivalitäten.

Auch in dieser Hinsicht scheint der marokkanische Fall vielversprechender als die anderen. Die Regierung in Rabat kümmert sich intensiv um die religiösen Belange ihrer Staatsbürger in der Diaspora, insofern als marokkanische Botschaften in der Regel einen Kadi zu ihrem Personal zählen; der ist nicht nur Richter in Personenstandsangelegenheiten, sondern auch Religionsgelehrter und Lehrer, also vergleichbar einem Oberrabbiner.

Marokkaner in Deutschland

Jeder Ort mit mehr als fünfzig Marokkanern hat einen Gastarbeiterclub, widädiya genannt, zu dem auch ein Moscheeraum gehört, in dem unter anderem Religionsunterricht erteilt wird. Die widädiyas bestellen sich ihre Imame selbst, dadurch haben sie nicht das Gefühl, vom Staat einen Beamten vorgesetzt zu bekommen. Aber die Botschaft trägt einen Teil der Kosten, und im Fastenmonat Ramadan kommen Dutzende von Predigern auf Staatskosten aus Marokko, um die Diasporagemeinden religiös zu erbauen.

Am wichtigsten dürften die Arabischlehrer sein, die der marokkanische Staat den Auslandsgemeinden zur Verfügung stellt. In Deutschland gibt es inzwischen fas\ dreißig davon, die alle an deutschen Schulen tätig sind. Es handelt sich also nicht um finstere Gestalten in nächtlichen Hinterhof-Koranschulen, wo mehr geprügelt als rezitiert wird. Im Gegenteil, die marokkanischen Lehrer machen samt und sonders erst einmal eine deutsche pädagogische Zweitausbildung durch. Sie sind aber nicht nur Lehrer der arabischen Sprache, sondern erteilen auch islamischen Religionsunterricht.

Die große Mehrheit unter den Marokkanern ist daher mit ihrem Leben in Deutschland recht zufrieden, und die deutschen Behörden sind zum Teil hoch erfreut über sie. Ja, bisweilen wird der marokkanische Fall sogar als Musterbeispiel angepriesen; denn es gibt kaum marokkanische Kinder, die in die privaten Koranschulen gesteckt werden, welche für die Kleinen eine gewaltige physische und vor allem psychische Anforderung darstellen.

Einige Beamte im Auswärtigen Amt sind den widädiyas gegenüber insofern skeptisch, als sie meinen, auf diese Weise werden die Auslandsgemeinden von der Regierung in Rabat über Maßen an die Kandare genommen. Nun, in der Tat findet hier ein Kampf statt; denn der Iran unternimmt Anstrengungen aller Art, in islamischen Gemeinden Fuß zu fassen.

Etliche Marokkaner, wie auch Tunesier, Algerier und Angehörige zahlreicher anderer Nationalitäten, sind dem Werben der Ajatollahs erlegen und haben islamistische Zellen gebildet, die nun gezielt Subversion betreiben.

Der Iran ist insofern im Nachteil, als wenigstens 90 Prozent der Moslems in Westeuropa Sunniten sind, zumal nach dem Zustrom so vieler Bosniaken, die durchweg Sunniten sind. Die alawitischen Kurden aus der Türkei, die in Deutschland besonders zahlreich sind, rechnen sich weder zu den Sunniten noch zu den Schiiten. Die Schiiten sind fast nur durch Perser und einige Libanesen vertreten. Eine Ausnahme stellt England dar, wo gut 20 Prozent der knapp zwei Millionen Moslems Schiiten sind, die aus Indien, Pakistan, Irak und den Golfstaaten kommen.

Die Salman-Rushdie-Affäre diente im wesentlichen dem Zweck, die Massen sunnitischer Moslems in Westeuropa vor Teherans Wagen zu spannen. Der Krach um Rushdie begann ja nicht etwa im Iran, sondern unter pakistanischen Moslems in England. Von dort griff der Funke nach Indien und Pakistan über. Erst als die Ajatollahs merkten, wie aufgebracht die indisch-pakistanischen Moslems über ihren Landsmann Rushdie waren, gössen sie Öl in die Flammen und präsentierten sich als Drachentöter.

Das blieb nicht ohne Wirkung, wenngleich noch nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, ob es Khomeini mehr Anhänger eingebracht oder mehr Sympathisanten vergrault hat. Unter den Moslems in Frankreich und Deutschland bekannte sich nur eine kleine Minderheit zu Khomeinis Todesurteil. Nordafrikaner und Türken fanden schwer Zugang zu den Satanischen Versen. Schließlich handelt es sich um ein durch und durch indo-pakistanisches Werk.

Viel stärker war deshalb der Widerhall in England. Hier verhalf der Skandal einem Mann zum Durchbruch, der heute als wichtigster Sprecher des Khomeini-Islamismus außerhalb Irans anzusehen ist: Kalim Siddiqi, Direktor des von Teheran finanzierten Muslim Institute in London.

England: Moslem-Parlament

Siddiqi ist ein ambitiöser Intellektueller aus Indien, der in jungen Jahren nach England kam und als links-orientierter Journalist Karriere machte. Rushdie erscheint wie ein jüngerer Bruder Siddiqis, so groß sind die Gemeinsamkeiten. Doch während Rushdie den Nobelpreis anvisierte, biederte sich Siddiqi bei Khomeini an. Heute ist er das Sprachrohr der Radikalenfraktion im Iran um Khomeinis Sohn Ahmad.

Ein spektakulärer Coup gelang ihm mit der Gründung eines „Moslemischen Parlaments" in London. In England sei der Islam zwar kein Territorialstaat, aber ein Gemeinwesen sei er doch, zumindest begrifflich, deshalb brauche er ein Parlament. Im übrigen definiert Siddiqi sein selbstgeschaffenes Parlament als eine Interessenvertretung der Moslems in England; er könne sich durchaus vorstellen, daß dieses Parlament zum Streik und anderen Formen des passiven Widerstands aufrufe.

Das ist ihm von den britischen Behörden übelgenommen worden, vor allem aber seine häufigen Bekräftigungen des Todesurteils gegen Rushdie, wofür ihm sein Muslim Parlia-ment als Plattform dient. Es steht außer Zweifel, daß es Siddiqi vornehmlich darum geht, sich durch Provokationen zu profilieren.

Die große Mehrheit der Moslems in England lehnt Siddiqis Muslim Par-liament als das ab, was es ist, nämlich das Theaterstück eines abenteuerlichen Gernegroß, der sich den Khomeini-Islamismus als Vehikel gewählt hat.

Man kann Siddiqi nicht absprechen, ein Auffangbecken für die Frustrationen der arbeitslosen zweiten Generation geschaffen zu haben - ein Auffangbecken, das mit zunehmender Krise an Attraktivität gewinnt.

Gerade deshalb ist es wichtig, den Bemühungen der Normal-Moslems Aufmerksamkeit zu schenken, die erst im Begriff sind, Institutionen zu schaffen, durch welche die bisher stimmenlose Mehrheit sich artikulieren kann. Sowohl in England als auch in Belgien haben sich Islamische Parteien gebildet. Wird es denen gelingen, jeweils einen Abgeordneten durchzubekommen?

Die Zahl der stimmberechtigten Moslems ist noch immer sehr gering, weil ja nur relativ wenige die Staatsbürgerschaft des Gastlandes besitzen. Bezeichnenderweise sind die Leiter jener beiden islamischen Parteien Konvertiten zum Islam. Nun haben zwar auch Übertritte zum Islam sprunghaft zugenommen, doch handelt es sich in jedem Land um kaum mehr als zehntausend Personen.

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