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Die Schiali und der „Alte vom Berg“

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Fast pausenlos wurden wir in Presse, Hörfunk und Fernsehen mit Berichten über den persischen Schiitenführer Khumeini berieselt, der von seinem Pariser Exil aus monatelang die Geschehnisse in Iran dirigierte. Sicher erweckt dieser den Eindruck einer zielbewußten Persönlichkeit. Seine Kraft liegt aber nicht in seiner Person, sondern im System der Schiah. Da in unseren Breiten kaum klare Vorstellungen über diese Richtung des Islam bestehen, seien im folgenden einige Grundzüge skizziert, die das heutige Geschehen von der Tiefe her verständlich machen

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Fast pausenlos wurden wir in Presse, Hörfunk und Fernsehen mit Berichten über den persischen Schiitenführer Khumeini berieselt, der von seinem Pariser Exil aus monatelang die Geschehnisse in Iran dirigierte. Sicher erweckt dieser den Eindruck einer zielbewußten Persönlichkeit. Seine Kraft liegt aber nicht in seiner Person, sondern im System der Schiah. Da in unseren Breiten kaum klare Vorstellungen über diese Richtung des Islam bestehen, seien im folgenden einige Grundzüge skizziert, die das heutige Geschehen von der Tiefe her verständlich machen

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Schiah ist ein arabisches Wort, das nichts anderes als „Teil“ (lat. pars) bedeutet; auf politische und religiöse Gruppierungen angewandt, heißt es „Partei“. Welche Partei? Muhammad hatte es versäumt, vor seinem Tod einen Nachfolger oder Stellvertreter (chalifah, wörtlich „die Stellvertretung“) zu ernennen. Zunächst folgten die alten Kämpfer Omar, Abu-Bakr, Othman und schließlich Ali, Muhammads Schwiegersohn.

Als Muawijah, der Gründer der Omajjaden-Dynastie, in Damaskus das Kalifat für sich usurpierte, kam es zum Bruch der islamischen Einheit. Die Frage, wer der rechtmäßige Kalif sei, wurde zum politischen und religiösen Schibbolot. Die rein religiös Eingestellten sagten, der Würdigste, abgesehen von seiner Herkunft, also auch ein Kuschit oder Neger.

Die politische Wirklichkeit entschied zu Gunsten der Omajjaden, aber eine nicht zu verachtende, große „Partei“, also die Schiah, vertrat die Meinung, daß einzig ein leiblicher Nachkomme Muhammads das Kalifat verwalten dürfe. Hiefür kämen nur die Nachkommen aus der Ehe zwischen Muhammads Tochter Fa-timah und Ali in Frage.

Das Märtyrermotiv

Die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Omajjaden und Ali wurden zu einer Tragödie für die Schiah. Ali hatte seine Truppen im südlichen Irak bei Kufa konzentriert. Am 17. Ramadan (24.1. 661) lauerten ihm drei Männer in einer engen Gasse auf. Einer versetzte ihm mit einem vergifteten Säbel einen Hieb gegen die Stirn, so daß er drei Tage danach starb.

Ali hinterließ zwei Söhne, Hassan und Hussein, Brüder verschiedenen Charakters. Hassan wurde von der Schiah zum Nachfolger Ali's ausgerufen, hatte aber wenig Interesse an der Weiterführung des Kampfes. Die Historiker schildern ihn als Mann üppigen Lebensgenusses. Er soll an die hundert Ehen geschlossen haben, weshalb er den Beinamen al-mitlaq, „der Ehescheider“, erhielt. Nachdem ihm der Omajjade 5 Millionen Dir-ham und eine große Lebensrente angeboten hatte, trat er vom Kalifat zurück, um das schöne Leben weiterzuführen.

Hussein war aus ganz anderem Holz geschnitzt. Nach Muawijja's Tod beanspruchte er das Kalifat für sich. Es kam wieder zum Nachfolgekrieg zwischen Syrien und Irak. Denn Hussein hatte seine Streitkräfte ähnlich wie Ali im südlichen Irak bei Kufa formiert. Er wurde aber von den Syrern umzingelt und kämpfte, da keine Hilfe zu erwarten war, mit seinen Getreuen bis zum letzten Mann.

Der neue Kalif Jazid war von diesem tragischen Ende des Enkels des Propheten zutiefst betroffen und ließ dessen Haupt in Kerbeiah im Irak bestatten. Husseins Todestag fiel auf den 10. Tag des Monats Muharram (10. X. 680).

Auf diesen 10. Tag (arab. Asüra) wurde in den Berichten über Persien öfters verwiesen. Es ist der Tag, an dem heute noch die „Passion Husseins“ gefeiert wird; 40 Tage nachher folgt als zweites Passionsfest die Feier der „Rückkehr des Hauptes“.

Im sunnitisch-orthodoxen Islam wurde das Passionsmotiv, sogar die Kreuzigung Jesu, total ausgeschaltet; in der Schiah brach es mit unerhörter Wucht durch, aber nicht mehr als Passio Christi, sondern als Passio Ali's und Husseins.

Da dem Schiah politisch kein Erfolg beschieden war, mußte sie in den Untergrund gehen. Als der Nachfolger Harun al Raschid's sogar das Heilige Grab in Kerbela zerstören ließ,

bedeutete dies nicht das Ende der Schiah. Die Zählung der wirklichen Nachfolger Ali's variiert zwar; die einen zählen 7 Nachfolger, d. i. Imame (die Siebener-Schiah im Jemen), andere zählen bis 12 (die Zwölfer-Schiah in Persien und Irak).

Beiden gemeinsam ist aber der Glaube, daß der letzte Imam nicht ge-

storben ist, sondern „in der Verborgenheit“ (ghaibah) lebt und zur rechten Zeit wiederkommen wird (rad-scha). Der Geschichtsablauf ist demnach auf den wiederkehrenden und erwarteten (muntazar) Imam ausgerichtet, der das Reich Gottes auf Erden aufrichten wird. Bald nach Ali's Tod entwickelte

sich eine eigenartige Imam-Theolo-gie. Die Fachwissenschaft nimmt hier gnostische, iranische und vor allem christliche Einflüsse an. Ali und seine Nachfolger seien keine gewöhnlichen Menschen gewesen. Von der Bibel her würde man sagen, sie seien vom Heiligen Geist inspiriert gewesen. Doch damit ist der ganze Umfang des Theologumenons nicht erfaßt.

Das arabische Wort hulül bezeichnet geradezu die Inkarnation des göttlichen Geistes im Imam. In ihm wird göttlicher Funke gegenwärtig. Daher sind seine Aussprüche unfehlbar wie das Wort Gottes selbst. Die verstorbenen sieben oder zwölf Imam lebten in vollständiger Sün-denlosigkeit. Im verborgenen Imam wird einmal Gottes Herrlichkeit selbst erscheinen. - Eine Analogie zur Christologie ist hier nicht auszuschließen.

Mit solchen Auffassungen trat die Schiah in scharfen Gegensatz zur Sunnah, weshalb sie als Häresie gebrandmarkt wurde. Die schiitischen Gelehrten flüchteten bei der Koranerklärung in das Prinzip der taqijjah, den gedanklichen Vorbehalt (reservatio mentalis). Nach außen suchten sie die Orthodoxie zu bewahren, ihre eigentliche Auffassung wurde zu einer Geheimlehre.

„Der Alte vom Berg“

Die Widerstandsnester der immer mehr zurückgedrängten Schiiten, die sich in verschiedene Richtungen aufgespalten hatten, waren im Libanon- und im Elbursgebirge. Der Westen sandte seine Kreuzfahrer-Heere, Saladin kämpfte für die Alleinherrschaft des orthodoxen Islam im Orient; als dritte Kraft suchte der Schiitenführer, einfachhin „der Alte vom Berge“ (Scheich aUDschabal) genannt, von der auch heute noch schwer zugänglichen Festung Ala-mut im Elbursgebirge aus, in den Geschichtsverlauf einzugreifen.

Er hielt ungefähr 30 Jahre lang (1163-1193) die ganze Welt in Atem. Durch geschickte Verhandlungstaktik spielte er Kreuzfahrer und Sunniten gegeneinander aus, vermi'ed aber regelrechte Kampfhandlungen.

Es stimmt nachdenklich, daß die große religiöse und politische Opposition im Iran den Namen fida'ijjan-i-Islam, „Erlöser des Islams“, gewählt hat. Der Name ist wohl Rückbesinnung und Zukunftsplan zugleich. Uberbückt man die Geschichte der Schiah, bekommt man nicht den Eindruck von einer in sich geschlossenen „Partei“, was das arabische Wort Schiah eigentlich bedeutet, sondern von einer Aufsplitterung in die verschiedensten Parteiungen.

In einem elektrisch geladenen Augenblick kann es aber geschehen, daß die Unterschiede vergessen und die Gemeinsamkeiten neu erkannt werden. Auf Grund des ölreichtums erlebt der Islam überhaupt eine unerhörte Renaissance. Es wäre geradezu zu verwundern, wenn nicht auch die Schiah eine von vielen nicht mehr erwartete Stoßkraft entwickelt.

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