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Der Gott Israels im Staat Israel

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Ist der Gott Israels im Land Israel ein lebendiger Gott, seine Lehre eine lebendige Lehre, sind seine Gesetze lebendige Gesetze? Um diese Fragen zu beantworten, ist es vielleicht nicht abwegig, so merkwürdig dies auf den ersten Blick anmuten mag, die Ergebnisse der Wahlen zur Knesset, dem israelischen Parlament, die in den zwanzig Jahren Von 1949 bis 1969 siebenmal stattgefunden haben, etwas näher zu betrachten. Hierbei ergibt sich das folgende Bild: Die sozialistischen Arbeiterparteien erhielten im Durchschnitt 49,3®/» der Stimmen und 60, das heißt genau die Hälfte der 120 Parlamentssitze, während sich die religiösen Parteien mit nur 13,8®/. der Stimmen und 17 Abgeordneten begnügen mußten. Auf den ersten Blick möchte es demnach so aussehen, als ob gerade im Heiligen Land die religiösen Interessen des jüdischen Volkes nur von einer verhältnismäßig kleinen Minderheit vertreten würden.

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Ist der Gott Israels im Land Israel ein lebendiger Gott, seine Lehre eine lebendige Lehre, sind seine Gesetze lebendige Gesetze? Um diese Fragen zu beantworten, ist es vielleicht nicht abwegig, so merkwürdig dies auf den ersten Blick anmuten mag, die Ergebnisse der Wahlen zur Knesset, dem israelischen Parlament, die in den zwanzig Jahren Von 1949 bis 1969 siebenmal stattgefunden haben, etwas näher zu betrachten. Hierbei ergibt sich das folgende Bild: Die sozialistischen Arbeiterparteien erhielten im Durchschnitt 49,3®/» der Stimmen und 60, das heißt genau die Hälfte der 120 Parlamentssitze, während sich die religiösen Parteien mit nur 13,8®/. der Stimmen und 17 Abgeordneten begnügen mußten. Auf den ersten Blick möchte es demnach so aussehen, als ob gerade im Heiligen Land die religiösen Interessen des jüdischen Volkes nur von einer verhältnismäßig kleinen Minderheit vertreten würden.

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Die Wirklichkeit sieht allerdings völlig anders aus, und um diese Wirklichkeit im heutigen Staate Israel richtig zu verstehen, muß man, beinahe auf das Jahr genau, um 19 Jahrhunderte zurückgehen, zu jenem Jahre 70 n. Chr. nämlich, in dem der jüdische Staat von den Römern erobert wurde und der Tempel in Jerusalem in Flammen aufging. Der Verlust der staatlichen Selbständigkeit und der Verlust an Menschen, sei es an im Krieg gefallenen oder als Sklaven ins Ausland verkauften, bedeutete keineswegs die physische und vor allem nicht die geistige Vernichtung des jüdischen Volkes.

Im Gegensatz zu den gleichmacherischen Tendenzen des modernen Nationalismus, die heute besonders in der kommunistischen Welt ihren stärksten Ausdruck gefunden haben, herrschte in der Antike noch vielfach das Prinzip der kulturellen Autonomie. Als zum Beispiel der Perserkönig Kambyses im Jahre 525 v. Chr. Ägypten, eroberte, gründete er auf der Insel Elephantine am obereren Nil (in deir Gegend dis heutigen Assuan) eine jüdische Militärkolonie, die die Grenze gegen Nubien zu bewachen hatte. Diese Juden bezeichneten sich stolz als „jüdisches Heer“ und standen in Glaubensfragen in ständiger Verbindung mit den jüdischen Autoritäten in Jerusalem. Selbst Vespasian, der in den Jahren 67 bis 69 n. Chr. den Krieg gegen die Juden führte, erlaubte dem Jerusalemer Gelehrten Jochanan ben Sakkai, noch während die Belagerung der Stadt weiterging, in dem kleinen Städtchen Jawneh, südlich von Jaffa, ein Lehrhaus zu gründen. Diese kleine Stätte religiöser Vertiefung und die unzähligen anderen, die dann im Heiligen Land selbst und in allen Teilen der sich stetig erweiternden jüdischen Diaspora entstanden, sie haben dann das geschaffen, was man als den „Zaun um das Gesetz“ be- zeichnete, jene Fülle von Vorschriften und Lehren, die das Judentum als Religion, die Juden als Volk, das Hebräische als seine Nationalsprache und die Hoffnung auf die Rückkehr in das Land seiner Väter erhalten haben, eine Hoffnung, die sich nach den furchtbarsten Katastrophen, die je ein Volk zu erleiden hatte, in unseren Tagen im Staate Israel auf das Wunderbarste verwirklicht hat

Kein Synagogenstaat!

Und nun zurück zu unserer Frage: Lebt der Gott Israels im Staat Israel und sind seine Lehren und Gesetze auch heute dort lebendig? Gewiß — Israel ist kein „Kirchenstaat“ oder, wohl richtiger, kein Synagogenstaat, obwohl es in diesem Ländchen, das nicht größer als Niederösterreich ist, nicht weniger als 6000 Synagogen und Betstuben gibt. Israel ist eine laizistische, demokratisch-parlamentarische Republik. Sollte also von den Geboten der Heiligen Schrift und von den Lehren des Talmud nichts übriggeblieben sein? Nichts von den klassischen Kommentaren des französischen Rabbiners Schlomoh Jizchaki, genannt Raschi, der im 11. Jahrhundert gelebt hat; nichts von den religionsphilosophischen Schriften eines Ibn Gabirol und eines Maimonides aus dem 12. Jahrhundert, und nichts von der religiösen Poesie des größten spanisch-jüdischen Dichters, Jehuda Halevi, dessen „Zioniden“, die von dem Schmerz über die Zerstörung des Tempels und über die Verwüstung der Heiligen Stadt und des Heiligen Landes und anderseits von der Hoffnung auf ihren Wiederaufbau und die Rückkehr der Verbannten getragen sind?

In Wirklichkeit gehört all dies und vieles mehr, zum festen Lehrprogramm der israelischen Grund- und Hauptschulen und selbstverständlich auch der höheren Lehranstalten. Hier wird die Bibel, zusammen mit ihren klassischen und modernen Kommentaren, im Laufe des zwölfjährigen Schulbesuches nicht weniger als dreimal durchgenommen.

In diesem Zusammenhang sei ein Wort über das Verhältnis der israelischen Jugend zur Religion eingeschaltet. Ich spreche nicht von den Kindern , .aus strenggląŲbigen Kreisen, sondern ‘ von den Kindern aus glaubensmäßig liberalen oder indifferenten Kreisen. Auch für diese sind die religiösen Feste mehr als schulfreie Tage, an denen man baden geht oder Ausflüge macht. Aber gerade die Jugend aller Richtungen hat diesen Festen einen neuen Sinn und eine neue Form gegeben. Am Purim- oder Losefest, das an die Rettung der persischen Juden zur Zeit des Königs Xerxes (Ahasverus) erinnert, sind die Synagogen überfüllt mit Kindern aller Altersstufen, die der Verlesung des Buches Esther mit Begeisterung folgen und die sich dann verkleidet, die Buben als Mardochai, die Mädchen als Königin Esther, in die Straßen ergießen, um in Rundtänzen und Liedern ihre Freude zum Ausdruck zu bringen. Pessach (Passah) ist dem Dank über den Auszug der Kinder Israels aus der ägyptischen Knechtschaft gewidmet. In seinem Mittelpunkt steht das festliche Familienmahl, bei dem der

Vater unter Assistenz der Kinder ein kleines Büchlein, die sogenannte Haggadah, d. h. Erzählung, vorliest. Es gibt kaum ein Haus in Israel und auch keinen Kibbutz, in dem Pessach nicht gefeiert würde. Bei dieser Gelegenheit, und dann für die Dauer von acht Tagen, wird an Stelle gewöhnlichen Brotes ungesäuertes Brot, die sogenannte Mazzah, gegessen, und hier vollzieht sich ein neues, modernes Wunder: da gibt es einen ganzen Staat, in dem es ohne gesetzlichen Zwang während dieser Zeit in keiner jüdischen Lebensmittelhandlung, Bäckerei oder Gaststätte etwas anderes gibt als eben jenes ungesäuerte Brot, die Mazzah.

Im Kabinett der Israelregierung amtiert auch ein Minister für religiöse Angelegenheiten, dessen Kompetenzen sich nicht nur auf jüdische Belange erstrecken, sondern der sich ebenfalls um die Bedürfnisse der religiösen Minderheiten (Mohammedaner, Christen, Drusen, rund 15 Prozent der Gesamtbevölkerung) kümmert. Aus seinem Budget werden nicht nur der Bau und die Erhaltung von Synagogen und die Rabbinergehälter kapitalsschwacher Gemeinden finanziert, er sorgt auch für den Unterhalt von 200 mohammedanischen Geistlichen an den 90 Moscheen des Landes. Die verschiedenen christlichen Glaubensgemeinschaften, die 400 Kirchen und Kapellen ihr eigen nennen und dies meist vom Ausland unterstützt werden, bedürfen dieser Hilfe nicht.

Schlag nach bei Maimonides

Zum Abschluß drei persönliche Erlebnisse: Während einer mehrwöchentlichen Übungsfahrt einer israelischen Fregatte, auf der ich diente, hatten - Wir auch einen jungen Armeerabbiner an Bord, der nicht nur regelmäßige Gottesdienste abhielt, sondern darüber hinaus jeden Tag eine Stunde für die gerade dienstfreien Offiziere und Mannschaften, vom Kapitän bis zum leichtesten Leichtmatrosen, einen Kurs über einen Traktat des bedeutendsten mittelalterlichen Rabbiners und Religionsphilosophen, Moses Maimonides (1135 bis 1204), abhielt. Dieser Traktat war von ganz besonderem Interesse für die Besatzung eines Kriegsschiffes, denn er handelte von nichts anderem als vom Kriege. Hier wird unter anderem auch das Problem berührt, wie sich jüdische Soldaten in Feindesland gegenüber der Zivilbevölkerung zu verhalten hätten und äußerste Humanität, besonders den Frauen gegenüber, gefordert. Man darf, ohne unbescheiden zu sein, wohl die Frage aufwerfen, in welcher Marine der Welt es möglich wäre, junge See leute zu finden, die bereit wären, sich in ihrer Freizeit mit der Lektüre mittelalterlicher religionsphilosophischer Werke zu beschäftigen.

Das zweite Erlebnis bezieht sich auf Jitzchak Ben-Zvi, den Nachfolger Chaim Weizmanns als Präsidenten des Staates Israel. Ben-Zvi war ein religiöser Sozialist, der am Sabbat regelmäßig die Synagoge besuchte und nach dem Gottesdienst in einem Kreise von Rabbinern und Universitätsprofessoren den Talmud studierte. Aus Sicherheitsgründen wurde der Präsident auf seinen Wegen stets von einem jungen, aus dem Irak stammenden Polizisten begleitet, der selbst einem religiösen Hause entstammte. Eines Tages bat er um die Erlaubnis, an diesem Kursus teilzunehmen und versicherte, er würde sich so postieren, daß er sowohl die Straße als auch das Studierzimmer im Auge behalten könne. Das wurde ihm genehmigt, und siehe da, als einmal eine besonders kniff- liche Frage diskutiert wurde und Präsident Ben-Zvi als letzter seine Auffassung des Problems dargelegt hatte, meldete sich der junge Mann zum Worte, bat um Verzeihung und bewies, daß sich der Herr Staatspräsident hier — geirrt habe. Auch hier darf man fragen: wo auf der Welt wäre es möglich, aus solchen Gründen zum Unteroffizier befördert zu werden?

Das dritte persönliche Erlebnis hat wiederum mit Präsident Ben-Zvi zu tun. Sein neunzigjähriger Vater war gestorben und die von der jüdischen Religion vorgeschriebenen überaus strengen Trauerriten waren auch für den Sohn während der Dauer einer Woche zu beachten. Sie sehen unter anderem vor, daß der Trauernde keine Arbeit verrichten darf, auf einem niedrigen Schemel sitzen muß, kein festes Schuhwerk anzieht und sich weder Bart- noch Haupthaar schert. Nun erhob sich die Frage: galten diese rigorosen Vorschriften auch für den Staatschef, der Pflichten hatte, die nur er erfüllen konnte, und war es seiner Würde entsprechend, Kondolenzbesuche in einer zwar nicht erniedrigenden aber doch erniedrigten Haltung zu empfangen?

Ich war zu dieser Zeit Chef des Protokolls — der erste seit der Zerstörung des jüdischen Staates durch die Römer vor beinahe eintausendneunhundert Jahren, und ich ahnte, daß auch der Präsident diese Fragen aufwerfen würde. Was aber tut ein israelischer Protokollchef in einem solchen Falle? Er konsultiert die erst vor rund siebenhundertund- fünfzig Jahren entstandenen, also relativ neuzeitlichen Schriften des Maimonides, der auch einen Traktat über die Rechte und Pflichten eines jüdischen Königs verfaßt hat. Nun gibt es zwar Unterschiede zwischen einem absoluten Monarchen und dem Präsidenten einer Republik, aber beide haben als oberste Repräsentanten ihres Landes Anspruch auf gewisse Vorrechte. Maimonides trägt dem auch Rechnung: sein König muß auch während der Trauerzeit erhöht sitzen und nicht auf einem niedrigen Schemel wie seine Untertanen. Er darf nicht an der Beerdigung teilnehmen, dagegen ist es ihm erlaubt, sich Bart und Haupthaar stutzen zu lassen.

Auch Ben-Zvi hatte Inzwischen den Königstraktat zu Rate gezogen, aber seine Reaktion war »o, wie ich sie erwartet hatte: er wünsche keine Vorrechte in Anspruch zu nehmen und sei es dem Andenken seines Vaters schuldig, die dem trauernden Sohn auferlegten Pflichten bis aufs Letzte zu erfüllen.

Die beiden hier angeführten Schriften des Maimonides, sind nur kleine Teile eines gewaltigen Werkes, das er Mischneh-Thora nannte, das heißt die Wiederholung der Lehre, der Lehre nämlich, die auf jene Sternstunde der Menschheit zurückgeht, als Moses auf dem Sinai die Zehn Gebote aus dem Munde Gottes empfing. Diese Gebote und diese Lehre leben auch heute im Staate Israel. Ja, ohne sie hätte er überhaupt nie entstehen können. Das muß auch Theodor Herai, seines Zeichens Feuilletonredakteur der „Neuen Freien Presse“, empfunden haben, der im Jahr 1897 die zionistische Weltorganisation ins Leben rief und damit der eigentliche Gründer des Staates Israel wurde. Herai wußte sehr wenig von der jüdischen Religion, hatte seit seiner Einsegnung kaum mehr eine Synagoge besucht und verstand kein Wort hebräisch. Und doch: am Schlüsse seines Zu- kunftsromanes „Altneuland“, in dem er ein Wunschbild des von ihm erträumten Judenstaates entwirft, diskutieren die Hauptfiguren der Erzählung, darunter zwei Nichtjuden, ein Araber und ein Engländer, die folgende Frage: „Wir sehen hier eine neue, glücklichere Form des Zusammenlebens von Menschen — wer hat das nun geschaffen?“ Und das sind die Antworten: Die Not. Das wiedervereinigte Volk. Die neuen Verkehrsmittel. Das Wissen. Der Wille. Die Naturkräfte. Die gegenseitige Duldung. Das Selbstvertrauen. Die Liebe und das Leiden.

„Der alte Rabbi Samuel aber“, so beendet Herai sein Buch, „stand feierlich auf und sagte: GOTT“.

Zur Behandlung des obigen Themas wurde der Autor, Dr. Michael Simon, ehemaliger Botschafter Israels in Wien, durch junge evangelische Akademiker angeregt, die regelmäßig bei Gottesdiensten Zusammenkommen, zu denen sie auch Bekenner anderer Religionen ein- laden.

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