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Jude oder Israeli?

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„Der generationenlange kulturelle Hintergrund der jüdischen Diaspora, der durch eine gemeinsame Vergangenheit und einen gemeinsamen Glauben erzeugt wurde und die Basis der jüdischen Nation darstellte, ist in Israel nicht mehr gültig. Hier gibt es keine solche jüdische Nation, statt dessen eine israelische. Der Israeli hat eine nationale Gesellschaft gegründet, die sich ihrer besonderen Eigenheit behußt ist und mit der jüdischen als solche nicht identifiziert werden will.“

Dies ist eines der vielen Zitate aus dem Buch „Das Ende des jüdischen Volkes“ von dem Soziologen Georges Friedmann, einem in Paris lebenden französischen Juden, die in einer langwierigen Gerichtsverhandlung vor dem Obersten Gerichtshof in Jerusalem diskutiert wurden. Der Oberste Gerichtshof, gegen dessen Beschlüsse kein Widerspruch mehr möglich ist, fällte folgenden Beschluß: „Nach dem Gesetz gibt es keine israelische Nation.“

Die Definition des Juden in Israel ist seit der Staatsgründung 1948 ein Zankapfel zwischen religiösen und nichtreligiösen Parteien innerhalb der verschiedenen Regierungskoalitionen und des Parlaments, der Knesseth.

Die Definition des Juden ist in Israel von besonderer Wichtigkeit, da jeder Jude das Recht besitzt, in seine neu begründete Heimat Israel „zurückzukehren“. Jüdische Rückkehrer (Einwanderer) erhalten laut Gesetz Vergünstigungen, die ortsansässigen

Israeli oder nicht jüdischen Einwanderern nicht gewährt werden.

Es genügt nicht, wenn sich jemand als Jude fühlt und bereit ist, für den jüdischen Staat zu kämpfen und zu sterben. Als vor einem Jahr amerikanische Neger als Touristen nach Israel kamen und behaupteten, vollgültige Juden zu sein und dem jüdischen Glauben zu huldigen, wurden sie von Staatswegen nicht als Juden anerkannt und erhielten bis heute nicht den Status bevorzugter Einwanderer. Der Gesetzgeber hält sich an das Talmudzitat (Ehegesetze): „Der Sohn einer israelischen Frau ist Dein Sohn genannt, aber der Sohn einer heidnischen Frau ist nicht Dein Sohn genannt.“

Das Grundprinzip ist: Jude ist, wer eine jüdische Mutter hat oder dessen Mutter zum Judentum übertritt, egal aus welchem Glauben sie kommt.

Diese Auslegung erregte immer wieder die Gemüter, weil nichtreligiöse Kreise sie als eine rassistische Definition ansehen.

1958 kam es zu einer schweren Regierungskrise, da die nichtreligiösen Kreise eine liberalere Definition angesichts der vielen Mischehen in der Diaspora forderten, um Familien mit nichtjüdischen Ehepartnern nicht von einer Einwanderung nach Israel abzuhalten. Allerdings konnten die religiösen Parteien ihren Standpunkt weiterhin aufrechterhalten.

1968 verlangte der Oberst der Kriegsmarine Benjamin Shalit die

Registrierung seiner beiden Söhne, Kinder einer glaubenslosen Mutter christlicher Abstammung, als Juden. Shalit behauptete, daß ein offizieller Übertritt seiner Frau zum Judentum eine Farce darstellen würde, da diese nicht fähig sei, an die jüdische Religion zu glauben. Nach langwierigen Gerichtsverhandlungen wurden die Söhne vom Staat als Juden anerkannt mit der Einschränkung, daß ihre persönlichen Rechte bei einer eventuellen Heirat oder Scheidung vor dem Rabbinatsgericht nicht gewahrt werden könnten, da das Rabbinatsgericht nach religiösem Gesetz sie nicht als Juden anerkenne. Als vor vier Monaten ein dritter Sohn von Oberst Shalit geboren wurde, weigerte sich diesmal das Innenministerium, ihn als Juden zu registrieren, obwohl seine beiden Brüder laut Gesetz als Juden eingetragen sind. In der Zwischenzeit war das Gesetz vom Parlament insofern geändert worden, als die bereits als Juden Eingetragenen laut Gesetz zwar Juden bleiben, künftig aber nur noch als Jude registriert werden darf, wer den Forderungen des Talmud entspricht.

Diese Gesetzesänderung veran-laßte den Tel Aviver Psychologen Dr. George Rafael Tamarin, ein Gesuch an das Innenministerium zu richten, seine Nationalität von Jude auf Israeli zu ändern. Dr. Tamarin erklärte dies damit, daß er sich einem jüdischen Volk, wie es der Gesetzgeber begründet, nicht angehörig fühlen könne, jedoch der Meinung sei, daß sich in den 24 Jahren seit der Staatsgründung eine israelische Nation gebildet habe, die nicht unbedingt mit einer jüdischen Nation gleichzusetzen sei. Nach Tamarin ist hier ein völlig neuer Menschenschlag entstanden, der mit den bisher bekannten Vorstellungsmerkmalen des jüdischen Volkscharakters wenig gemeinsam hat. Tamarin berief sich unter anderem auf die Ansichten von Georges Friedmann. Mittlerweile glaubt aber auch Friedmann an die Existenz eines jüdischen Volkes. Er mußte seine Ansichten über die zwei Möglichkeiten des Juden, sich entweder an die Israeli oder an die Völker der Gastländer zu assimilieren, 1971 revidieren. Tamarin zitiert nur die Meinungen Friedmanns vor dem Sechstagekrieg.

Weiter zitiert Tamarin den jüdischamerikanischen Soziologen H. R. Isaacs, der 1963 Gespräche mit 50 amerikanischen Juden in Israel veröffentlichte. „Das schmerzlichste ihrer Probleme war bei vielen Amerikanern nicht, daß sie Juden sind, sondern Israeli zu werden.“ Hier mußten sie auf viele ihrer amerikanisch-jüdischen Eigenheiten verzichten, um sich an das ihnen fremdländisch erscheinende israelische Milieu zu gewöhnen.

Die drei Oberrichter Dr. Shimon Agranat, Zwi Berenson und Doktor Jakob Kahn feilten einige Monate an ihrem Urteil, das über 42 Seiten umfaßt und aussagt, daß die jüdische und israelische Nation identisch seien. Es heißt darin: „Dr. Tamarin hätte beweisen müssen, daß die Angehörigen der israelischen Nationalität keine gegenseitige Abhängigkeit und Verantwortung gegenüber den Juden der Diaspora kennen, wie auch kein Gefühl der Verbundenheit gegenüber dem Los der Juden in aller Welt bei ihnen vorhanden sei. Er hätte auch beweisen müssen, daß Judenverfolgungen in der Welt sie nichts angehen, außer, daß sie allgemeine humanitäre Gefühle erwek-ken.“ Dr. Agranat berief sich sogar auf Angehörige einer Fallschirmspringereinheit, welche die Altstadt von Jerusalem einnahmen — beim Anblick der Klagemauer brachen sie in Tränen aus, obwohl sie keine religiöse Erziehung genossen hatten: „Wir stehen vor den Plätzen, die uns seit jeher teuer sind, wir stehen vor der Geschichte des jüdischen Volkes.“

Das Urteil meint: „Die Erneuerung des politischen Lebens in der jüdischen Heimat kam nicht, um das jüdische Volk zu entzweien in eine jüdische Nation in der Diaspora und eine israelische in Israel, der altneuen Heimat des jüdischen Volkes. Würde letzteres eintreten, wäre dies im Widerspruch zu den nationalen Zielen, die seinerzeit zur Gründung des Staates Israel führten... Die Tatsache, daß Dr. Tamarin und seine Freunde einigen Erscheinungen begegnen, die gegen ihre Weltanschauung verstoßen, geben ihnen noch lange kein Recht, eine neue (nichtjüdische) israelische Nation gründen zu wollen. Ihnen steht es offen, auf demokratischem Weg diese ihnen nicht akzeptablen Erscheinungen zu beseitigen.“

Trotzdem ist das Problem noch nicht gelöst, denn in den nächsten Tagen will Oberst Shalit wieder vor Gericht gehen, um seinem Sohn eine nationale Identität verleihen zu lassen.

Da die Mutter des Kindes keine Jüdin ist, wurde es nicht als Jude registriert. Nach dem grundlegenden Jerusalemer Urteil steht fest, daß in Israel israelische Staatsbürgerschaft nicht mit israelischer Nationalität identisch ist, so daß bei jedem Staatsbürger außer der Staatsbürgerschaft auch die Zugehörigkeit zur Nation verzeichnet ist. Das Problem entsteht auch bei Christen, die keine Araber sind und die hier geboren wurden. Welche Nationalität haben sie? Und welchen Status, welche Rechte?

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