Ich bin Christ. Und sage: ICH BIN JUDE

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Eine christliche Stimme gegen antijüdische Allianzen in den Tagen zwischen Gaza-Krieg und Rosch ha-Schana, dem jüdischen Neujahrsfest (25./26. September).

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Eine christliche Stimme gegen antijüdische Allianzen in den Tagen zwischen Gaza-Krieg und Rosch ha-Schana, dem jüdischen Neujahrsfest (25./26. September).

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Auf dem Ölberg in Jerusalem las ich in Elie Wiesels Roman "Der Bettler von Jerusalem", eine Geschichte aus dem Sechstagekrieg von 1967. Vor mir die Altstadt, dahinter Westjerusalem, die Schauplätze dieses Romans. Während ich lese, gerate ich zwischen die Zeiten. Was war gestern? Was ist heute? Juden kämpfen, sie lassen sich nicht mehr wie Schafe zur Schlachtbank treiben. Da kommen Erinnerungen und Gedanken an Aversionen gegen Juden insgesamt mit, geschmiedet im Feuer alter Traditionen, dem viele Christen, Muslime, Anders- und Nichtgläubige Brennstoff geliefert haben.

Bei meinem Aufenthalt Mitte September stoße ich auf all das. Verblüfft hat mich dabei vor allem die Selbstverständlichkeit, mit der ich als Christ in Allianzen gegen Israel genommen wurde. Bin ich als Christ definiert durch die Abgrenzung vom Judentum? Es ist wahr: Kaum eine der theologischen Stützen des Christentums enthält nicht wenigstens indirekte Abwertungen, Verneinungen oder polemische Spitzen gegen die jüdische Tradition. Doch dem Erben einer Geschichte, in der vor 70 Jahren die industrielle Vernichtung europäischen Judentums auf christlich durchtränkter Erde stattgefunden hat, sind diese Stützen höchst verdächtig geworden. Der Verdacht hat auch darin seinen Grund, dass man deshalb in gefährliche Allianzen gegen Israel eingebunden wird. Drei unterschiedliche Begegnungen waren dafür symptomatisch.

In einem christlichen Beherbergungsbetrieb erklärt man mir, dass hundert Betten leer stehen. Und warum? Ich glaubte, wegen der Wirtschaftskrise. "Oh nein", kam die Antwort, "wegen der Situation in diesem Land, und dann der Krieg gegen Gaza."

Antijüdische Aversionen

Als mir dann im selben Haus noch von anderer Seite erklärt wurde, man habe "diesen Krieg mit 300.000 Dollar subventioniert", war mir klar, hier gehöre ich nicht dazu. In diesem Jargon schwangen antijüdische Aversionen in einer Selbstverständlichkeit mit, die mich entsetzte. Ich zog ab.

Fußgängerzone Mamilla, knapp am Jaffa-Tor. Zwei junge Frauen sprechen mich auf Englisch an. Sie fragen, ob ich Amerikaner sei. Nein, ich bin aus Österreich. Dann kam die Feststellung der beiden: Dann bist du Christ. Ich frage, ob sie diese Antworten für eine Untersuchung brauchen, vielleicht für die Uni. Nein, sagen sie, es interessiert sie privat. Wie lange ich bleibe, wollen sie wissen. Ich antworte auf Hebräisch: bis zum ersten Tag, also bis zum Sonntag. Sie verstehen zuerst nicht, unterhalten sich kurz, eine erklärt der anderen, das war hebräisch gesprochen. Nachfrage: Bist du also Christ? Ja, ich bin Christ. Dann ist es gut, sagt eine der beiden, wir sind Musliminnen und hassen wie ihr die Juden. Ehe ich noch etwas sagen konnte, sind sie schon gegangen.

Nachmittags in Yad Vashem, dem Schoa-Museum im Westen Jerusalems. Im ersten Gebäude des Museums gebe ich meinen Rucksack ab. Alle Wertsachen soll ich herausnehmen, bittet mich der Mann an der Garderobe. Ich nehme die Geldbörse und meine kleine Hebräische Bibel, die ich mitgenommen hatte, um irgendwo am Gelände etwas zu lesen, einen Psalm zu beten. Der Mann sagt, das ist gut, was ich da mithabe. Ja, sage ich, das hilft mir hier. Denn hier bekomme ich mit meiner Geschichte und mit meiner Sprache zu tun. Ich verstehe jede Zeile der christlichen Polemik und jedes Wort von Hitlers Gebrüll.

Ich bin deutschsprachiger Christ. Er beschäftigt sich viel mit diesen Geschichten und auch mit Jesus, sagt mir der Garderobier. Jesus war Jude, zeit seines Lebens. Aber die Christen haben ihn aus dem Judentum herausgeholt und zu irgendetwas anderem gemacht, und mit dieser anderen Figur haben sie Juden immer wieder verfolgt. Nicht alle Christen waren und sind so, aber viele von ihnen.

Das ist nicht mein Christentum, auch nicht mein Jesus, sage ich zu ihm. Ich komme nicht, um Juden zu bekehren. Ich komme hierher, um jedes Mal ein wenig umzukehren. Das ist gut, sagt er zu mir, aber umkehren - wohin? Umkehren zum Juden Jesus, zu seinem Gott, zu seinem erwählten, gequälten Volk. Darum bin ich auch in Yad Vashem. Kol tuv, alles Gute, wünscht er mir, und ich gehe, beschwert, aber frei.

Zufällig Jude. Zufällig Christ.

Es gibt eine Zeit, in der man nur Mensch sein kann, wenn man die Bedingtheit des Juden auf sich nimmt, schreibt Elie Wiesel in "Der Bettler von Jerusalem". Das galt in dieser Geschichte denen, die ihr Judesein annahmen in dieser gefährlichen Zeit des Sechstagekriegs, obwohl sie betonten, nur aus Zufall Juden zu sein, durch Geburt, die sie sich nicht ausgesucht hatten. So wenig wie sie habe ich mir mein Christsein ausgesucht. Ich wurde getauft, als ich neun Tage alt war. Aber meinem Christsein gebe ich die entscheidende Wendung: Ich kündige jeder antijüdischen Allianz.

Als 1967 einige deutsche Bischöfe nach Jerusalem kamen, um ihre Solidarität mit Israels Juden zu zeigen, schlug ihnen der israelische Schriftsteller Aharon Appelfeld vor: Sagen Sie ihnen, wir sind jüdisch Schweigen Schweigen Ich habe mich schrecklich gefühlt wegen dieses Schweigens. Sie haben nichts gesagt, kein Wort. Nach einer Weile haben sie gesagt: Wir können das nicht tun, wir können das nicht tun. Todernst.

Seither sind 47 Jahre vergangen. Dieses Schweigen hält an, unterstützt Allianzen gegen Israel und unterbricht deren Selbstverständlichkeiten nicht. Doch ihre Unterbrechung ist Gebot für mich, in Jerusalem geschmiedet in den wenigen Tagen zwischen dem Gazakrieg und dem jüdischen Neujahr: Ich bin Jude. Anders will ich nicht mehr Mensch, nicht mehr Christ sein. Ich bin Jude.

Der Autor ist Prof. für Fundamentaltheologie an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Wien

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