"Wir stammen von Kain"

Werbung
Werbung
Werbung

Um Religion und Fundamentalismus geht es im folgenden Gespräch mit Ágnes Heller, Schülerin des Philosophen Georg Lukács. Fundamentalist sei nicht, wer konsequent zum Kern eigener Überzeugungen steht, sondern wer all jene verdammt, die anderer Ansicht sind.

Die Furche: Jüngst ist von Ihnen als Buch erschienen: Die Auferstehung des jüdischen Jesus. Was steckt hinter diesem ungewöhnlichen Titel?

Ágnes Heller: Ich meine damit etwas ganz Einfaches. Seit beinahe 2000 Jahren hat man vergessen, dass Jesus ein Jude war. Natürlich wusste man immer, dass er jüdischer Abstammung ist, aber dass er ein guter, glaubender Jude war, das hat man vergessen. Die Christen haben vergessen, dass sie ihre Religion gegen die jüdische Religion definierten. Die Juden haben es vergessen, weil sie in der Figur Jesu immer eine feindliche Figur sahen und Jesus als einen guten Juden überhaupt nicht anerkannt haben. So war er zweifach vergessen. Und was mich interessierte, war die Tatsache, dass nach dem Zweiten Weltkrieg langsam der jüdische Jesus wieder entdeckt wurde.

Die Furche: Worin sehen Sie Anlässe für die Wiederentdeckung des jüdischen Jesus?

Heller: Von christlicher Seite her kommt Auschwitz eine symbolische Bedeutung zu. Gläubige Christen hat Auschwitz darauf gebracht, dass sie hier die Rolle Kains spielten. Man begann zu spüren, dass Jesus in Auschwitz wiederum symbolisch ans Kreuz geschlagen, dass er getötet wurde. Es kam zu einer Gewissenserforschung, und durch die Katastrophe von Auschwitz muss sich das Christentum an seine Sünden gegenüber dem Judentum erinnern. Es muss die verleumderischen Interpretationen vergessen, die der Antijudaismus von Generation zu Generation überliefert hat. Es gibt keine andere Wahl, als den jüdischen Jesus auferstehen zu lassen. Von jüdischer Seite her ist diese Auferstehung nicht durch ein Schuldbewusstsein veranlasst. Zwar ist das jüdische Bild von Jesus genauso voller Vorurteile, zurückweisend und verständnislos, wie das Bild der Christen von den Juden. Aber es gibt keinen moralischen Grund, dieses Bild zu revidieren. Hier spielt Jerusalem als Hauptstadt des Staates Israel die Hauptrolle. Die Entdeckung des jüdischen Jesus macht die Tendenz hin zu einem pluralistischen Judentum deutlich. Warum sollten die zahlreichen religiösen Schattierungen des Judentums von vor 2000 Jahren und unter ihnen die Lehre Jesu nicht wieder zitiert und im heutigen kollektiven jüdischen Gedächtnis aufbewahrt werden können?

Die Furche: Warum ist der jüdische Jesus für Sie als Philosophin ein Thema?

Heller: Jesus hat mich immer fasziniert. Früher habe ich ihn mit Sokrates verglichen. Außerdem bin ich in den letzten Jahren zunehmend mit Problemen der Religionen befasst.

Die Furche: Welches sind die wichtigsten Erlebnisspuren Ihrer Biographie?

Heller: Was ich in Zusammenhang mit meiner Philosophie immer erwähne, sind Auschwitz und der Gulag, die totalitären Regime. Die Fragen, die ich mir stellte, waren: Wie ist das menschlich möglich, und wie ist das geschichtlich möglich? Auf diese Fragen konnte ich keine Antwort finden, weil es keine gibt. Natürlich - das Leben ist nicht nur öffentliches und politisches Leben. Es gibt auch andere Erlebnisse. Es gibt persönliche Beziehungen, es gibt Kunst- und Naturerlebnisse, die wichtig sind. Als kleines Kind war ich oft in Österreich und ich erinnere mich an die Tannenbäume, die Wälder, die kleinen Zyklamen, die ich gepflückt habe. Auch an den Schnürlregen; der war nicht angenehm, aber der Geruch war wunderbar.

Die Furche: Was lässt sich aus Ihrer Sicht über den Holocaust sagen?

Heller: Wenn etwas von Gott geplant ist, kann es nicht sinnlos sein. Aber der Holocaust ist sinnlos. Und der Sinnlosigkeit kann man nicht Sinn geben. Doch glaube ich, dass es eine Besonderheit des Holocaust ist, etwa im Vergleich mit dem Gulag, dass er eine Art theologisches Element hat. Hitler wollte die Juden ausrotten, er wollte Gott töten. Und man kann Gott töten, wenn man das auserwählte Volk tötet. Schon Augustinus sagte, dass das jüdische Volk leben muss, damit Zeugen bleiben, dass Jesus lebte. Wenn man das jüdische Volk tötet, dann gibt es keine Zeugen, dass Jesus überhaupt gelebt hat. Das heißt, es war in einer Weise ein Kampf gegen Gott.

Die Furche: Wie ist es für die Nachgeborenen möglich, sich an etwas zu erinnern, das man nicht selbst erlebt hat?

Heller: Es gibt die kollektive Erinnerung. Wir erinnern uns: was wir getan haben, was wir gelitten haben, das können wir alle erinnern. Und nicht nur, wenn unsere Ahnen es gemacht haben. Wenn Leute sich an den Holocaust erinnern, dann stellen sie sich auf den Platz von Abel, nicht auf den Platz von Kain, sie identifizieren sich nicht mit den Tätern, sondern mit den Leidenden. Auch wenn ihre Großväter zu den Tätern gehört haben. Und das ist meine These: Zwar stammen wir alle von Kain ab, doch identifizieren wir uns alle mit Abel. Das heißt, kollektive Erinnerung ist nicht biologisch vermittelt, sie ist historisch oder kulturell vermittelt.

Die Furche: Wie schätzen Sie den Stellenwert des Religiösen in der Moderne ein?

Heller: Ich glaube, das Religiöse war nie verschwunden. Es hängt vom Kontinent ab. Die USA etwa waren immer ein religiöses Land. In Europa wurde die Religion nach der Aufklärung marginalisiert. Interessant ist hier aber die Säkularisierung. Damit meine ich nicht, dass Religion verschwunden ist, sondern dass sie im Leben keine Rolle mehr spielt. Säkularisierung ist nicht dasselbe wie Atheismus und nicht dasselbe wie das Verschwinden der Religionen. Und zur Moderne gehört auch der Fundamentalismus. Es gibt auch Fundamentalismus, wo es religiösen Pluralismus gibt.

Die Furche: Sie schreiben einmal, dass der Fundamentalismus nur eine Herausforderung für den Dialog der Religionen ist, aber nicht für die moderne Gesellschaft. Bleiben Sie auch nach dem 11. September dabei?

Heller: Mein Argument ist, dass dieser Terror zur Moderne gehört.

Die Furche: Haben Sie einen Verdacht, warum?

Heller: Die Moderne hat gute und schlechte Varianten. Demokratie ist modern und das ist wunderbar, doch auch Totalitarismus ist modern, Terror ist modern, sehr viele Sachen sind modern. Auch Bin Laden ist modern. Sein Vater war ein Selfmade-Man, ein Bourgeois, er stammt nicht von der Monarchie, er stammt nicht von traditionellen Stämmen. Er hat den Fundamentalismus frei gewählt, er ist nicht hineingeboren. Seine Ideologie ist ein islamischer religiöser Fundamentalismus. Fundamentalisten wollen nicht hinter die Moderne zurück. Sie wollen etwas anderes. Sie sind antiliberal. Liberalismus ist der größte Feind aller terroristischen, totalitären Regime. Menschenrechte, individuelle Freiheit, Freiheit der Wahl und der Lebensformen, das ist ihr größter Feind.

Die Furche: Sie vertreten eine "Detotalisierung der Wahrheit". Meint das, dass eine Religion einen absoluten Kern haben muss, der nicht gleichzeitig Ausschließlichkeit ist?

Heller: Ja, darum geht es. Bei den Religionen gibt es einen absoluten Punkt, sonst gehört man nicht zu dieser Religion. Aber in vielen Punkten sind die verschiedenen Religionen miteinander identisch. Die 10 Gebote sind doch die 10 Gebote in allen monotheistischen Religionen. Die Detotalisierung ist die Grundfrage des Dialogs. Was ich mit den anderen gemein habe, das betone ich und nicht nur das Einzige, den Kern meiner Überzeugung, meines Glaubens, den ich mit den anderen nicht gemeinsam habe. Mein Beispiel ist immer meine Sekretärin in New York: Sie stammt aus dem Süden und gehört zur puritanischen, protestantischen Religion. In der Religionsstunde wurde ihr gesagt, dass alle Katholiken in die Hölle kommen, weil sie die falsche Religion repräsentieren. Dass der andere in die Hölle kommt, das ist eben Fundamentalismus. Der Protestant kann sagen, meine Religion ist die beste Religion, aber nicht: "Ihr geht in die Hölle". Fundamentalismus ist nicht, dass ich einen Schleier trage, sondern wenn ich alle Frauen, die keinen tragen, als Feinde Gottes betrachte und als Huren.

Die Furche: Das erinnert an Lessings Ringparabel.

Heller: Natürlich - aber es gibt bei Lessing noch eine zweite Parabel: Wenn Gott sich an mich wendete und sagte: In meiner linken Hand ist ewiges Streben zur Wahrheit und in der rechten Hand ist die Wahrheit - bitte wähle. Da würde ich antworten: Mein lieber Gott gib mir deine linke Hand, das ewige Streben nach der Wahrheit, denn Wahrheit ist für dich allein. Das ist von Lessing wunderschön gesagt. Das ist mir noch lieber als die drei Ringe. Die Ringparabel ist eine Parabel der Toleranz und das andere ist die Parabel der Wahrheit.

Das Gespräch führten Christiane Koch und Michael Hofer.

Nur knapp der Erschießung entgangen

Ágnes Heller wurde 1929 in Budapest geboren. Ihren Vater verliert sie während der Nazi-Herrschaft: Er wird in Auschwitz ermordet. Sie selbst entgeht zweimal nur knapp der Erschießung. 1947 tritt sie in die Kommunistische Partei ein, studiert Philosophie und wird Assistentin beim prominenten marxistischen Philosophen Georg Lukács. 1952 wird sie aus der Partei ausgeschlossen und kann in den siebziger Jahren nach Australien und später in die USA auswandern. Seit 1987 lehrt sie am Hannah-Arendt-Lehrstuhl der New School of Social Research in

New York. 1981 erhielt sie den

Lessing-Preis der Stadt Hamburg.

Von ihren zahlreichen Büchern sind auf deutsch unter anderem erhältlich:

"Ist die Moderne lebensfähig" (1995), "Der Affe auf dem Fahrrad" (1999),

"Die Auferstehung des jüdischen Jesus" (2002).

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung