"Bitte konkreter, konkreter!"

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Der bosnische, in Graz und Sarajevo lebende Schriftsteller dzÇevad karahasan im furche-Gespräch: über die Vorzüge des bosnischen Kulturmodells, das christliche Angebot radikaler Freiheit, die tödliche Gefahr von Vereinfachungen und die Nutzlosigkeit von Literatur.

Die Furche: Sie haben einmal von Bosnien als einem "dramatischen Kulturmodell" gesprochen. Wie ist das zu verstehen?

DÇzevad Karahasan: Ich habe das bosnische - "dramatische" - Kulturmodell, das vielleicht in der Europäischen Union zustande kommen könnte, vom so genannten "dialektischen Kulturmodell" unterschieden. Ein dialektisches Kulturmodell hieße, in der dialektischen Triade zu agieren, also Thesis - Antithesis - Synthesis: "Du bist eigentlich ich, der immer noch nicht begriffen hat, dass er ich ist. Werde so wie ich, damit du Vollkommenheit erreichst." Das dramatische Kulturmodell meint demgegenüber, Spannung ist fruchtbar: "Ich bin ich, weil du du bist. Du ermöglichst mir durch unsere Unterschiede, mich zu begreifen." Bei einer Dankesrede für einen Preis im Jahr 1997 habe ich behauptet, dass mein bester Freund, ein bosnischer Franziskaner, Mile Babi´c, sich seines Katholizismus' klarer, feiner, raffinierter bewusst sei, als der damalige Kardinal Ratzinger. Denn im Vatikan katholisch zu sein, kommt geradezu einer Tautologie gleich. Im Vatikan ist alles katholisch. Steine und Winde, Tauben, Bäume und alle Leute. In Mekka ein Muslim zu sein, ist genauso tautologisch, oder in Bagdad ein Amerikaner. Aber in Bosnien ein Katholik zu sein, heißt tagtäglich mir, einem Muslim, zu begegnen, oder meinem Freund Gavro Grahova´c, einem orthodoxen Christen, oder Herrn Kamhi, einem Juden. In Bosnien katholisch zu sein, heißt Tag für Tag seine katholische Zugehörigkeit zu artikulieren, zu überprüfen, und aus seiner menschlichen Freiheit aufs Neue zu wählen.

Die Furche: Man braucht also den anderen als Gegenüber, um zu sich selbst zu finden?

Karahasan: Ja! Wie hätte ich meiner Zugehörigkeit zum Islam so sehr bewusst werden können ohne Mile Babi´c. Ohne meine orthodoxen Bekannten, ohne manch andere. Ich könnte es auch so definieren: Im dramatischen oder bosnischen Modell wird eine Identität in sich dynamisch, fließend verstanden. Natürlich gibt es so etwas wie einen harten Kern der Identität, der immer da ist und stabil bleibt. Aber jede Identität hat auch eine fließende Dimension, die sich immer aufs Neue formiert.

Die Furche: Was passiert, wenn es zwischen Menschen ein Gefälle gibt, das beispielsweise durch Gewalt begründet ist? Welche Lösungen bietet hier das dramatische Modell an?

Karahasan: Das Drama bietet mehrere Möglichkeiten an. Eine Möglichkeit bieten die Theoretiker, die behaupten, dass Konflikt die Grundlage des Dramas ist. Sie wäre: "Mein Lieber, entweder denkst du so wie ich, oder ich schlage dir auf die Schnauze." Das Problem dabei ist, dass der Ausbruch des Konflikts eigentlich das Ende des Dramas bedeutet. Alles neigt sich seinem Ende zu. Die Spannung zum Konflikt entarten lassen, wäre also eine Möglichkeit, die uns das Drama bietet. Die andere Variante wäre, den Instrumenten des Angreifers andere Instrumente gegenüberzustellen. Seinen Versuchen, handgreiflich oder gewalttätig zu werden, mit der "geistigen Gewalt" zu begegnen: "Naja, mein Lieber, du bist ein harter Kerl, alle Achtung, lass uns aber bitte reden ..." Es ginge dabei vor allem darum, den Gewalttäter dazu zu bringen, die Grenze, die zwischen uns bestehen muss, zuerst zu erkennen und danach anzuerkennen.

Die dritte Variante, die uns das europäische Drama bietet, wäre Humor. Mit Humor auf Schreie zu reagieren. Und die vierte Variante wäre schließlich, alles ins Komische entarten zu lassen: "O Mann, wie ich mich vor dir fürchte! Verzeih mir bitte, dass es mich gibt, das kommt nicht wieder vor, ich verspreche es!" All diese Varianten sind auch in der historischen Wirklichkeit öfters vorgekommen, aber am wenigsten fruchtbar war schon immer die erste Variante: mit Gewalt zu reagieren. Denn die Gewalt und der Ausbruch des Konflikts reduziert meine Identität auf einen harten Kern, den wir uns vielleicht gar nicht selbst erworben haben, sondern vom lieben Gott, von der Gesellschaft, von der heiligen Wissenschaft, von wem auch immer geschenkt oder aufgedrängt bekommen haben.

Die Furche: Fehlt nicht die Variante des Opfers?

Karahasan: Ja, danke für die Bemerkung. Ich habe es nicht gewagt, diese Lösung heute anzubieten, in einer Welt, die antichristlich ist. Denn wenn die christlichen Werte irgendwo in der Welt heute wirklich bedroht sind, so im Westen. Ehrlich gesagt, es sind ganz wenige bei uns bereit, die christliche Lösung, das Vorbild Jesu, aufzunehmen und so zu leben.

Was für mich als Nicht-Christen vor allem grenzenlos große Gültigkeit im Christentum hat, ist das Angebot Jesu, frei zu sein. Er hat unsere menschliche Freiheit zuerst metaphysisch begründet, indem er sagte, dass es einen physischen, körperlichen Tod gibt, dem man nicht entweichen kann. Aber einen geistigen Tod gibt es nicht. Also sei bitte frei. Weil du sterben kannst, darfst du auch im Diesseits frei sein. Jesus hat auch unsere soziale Freiheit möglichst weit begründet, indem er sagte, dein Nächster ist weder ein Gott noch ein Wolf, dein Nächster ist dein Bruder. Aber offen gestanden wage ich es kaum, heute in einer Welt des reinen Wettbewerbs und der grenzenlosen Konkurrenz, in einer Welt, die ein Held von mir das "Zeitalter der lächelnden Tiger" bezeichnet hat, darüber zu reden. Ein weiterer wichtiger Beitrag des Christentums in der Weltkultur, gleichsam die zweite Säule der sozialen Begründung unserer menschlichen Freiheit, ist es, wenn Jesus sagt: "Seht euch die Vögel am Himmel und die Lilien auf dem Felde an ..." Schäme dich nicht, arm zu sein, Armut ist keine Schande. Armut ist ein Zustand, der es dir ermöglicht, dich dir selbst zu widmen und deinem Nächsten. Auch hier: Heute gilt im Westen Armut entweder als ein Verbrechen oder als eine Schande.

Und nachdem Jesus metaphysisch und sozial unsere menschliche Freiheit begründet hatte, tat er es auch mental, indem er sagte: "Du bist einmalig, einzigartig, unwiederholt, denn dein Schöpfer liebt dich!" Das erste Mal in der Weltgeschichte wurde von einem Gott der Liebe geredet. Ich kann nicht einsam und verlassen sein, solange es ihn gibt. Aber ich frage: Kann man heute im Westen diese Werte überhaupt leben, darf man sie erwähnen in einer Gesellschaft, die gerade Liebe absolut verneint? Heute werden wir mit den Bildern des Todes bombardiert, doch die unmittelbare Erfahrung des Todes wird uns verweigert. Indem wir eine Erfahrung des Todes bekommen, werden wir imstande, unsere Ängste vor dem Tod zu artikulieren und dadurch auch zu überwinden. Aber die unmittelbare Erfahrung des Todes muss man uns verweigern, damit man uns manipulieren kann.

Aus diesen Gründen habe ich nicht einmal versucht, diese christliche Lösung anzubieten. Die ist in der Öffentlichkeit der westlichen Gesellschaft eigentlich nicht mehr vorhanden. Es wäre wunderbar, es wäre sehr ermutigend, wenn auch öffentlich viel mehr darüber geredet werden würde.

Die Furche: Ist Toleranz in Ihrem Verständnis des menschlichen Miteinanders eine wichtige Kategorie?

Karahasan: Jedes Mal, wenn von Toleranz die Rede ist, fällt mir eine geradezu geniale Aussage von Goethe ein. Goethe sagt einmal, die Toleranz ohne Gleichgültigkeit wäre der beste Zustand für eine menschliche Gesellschaft. Ehrlich gesagt ist für mich Toleranz eine notwendige Voraussetzung für die Existenz überhaupt. Toleranz versteht sich von selbst. Für mich und für das dramatische Modell ist die Toleranz aber zu wenig. Denn wenn ich Sie nur toleriere mit Ignoranz oder mit Gleichgültigkeit, wie Goethe es sagte, dann bleiben wir beide so wie ein Glas neben dem anderen stehen. Ein wenig Neugierde, ein wenig der Wunsch nach der Erkenntnis hilft mir, Sie als ein Subjekt an-und wahrzunehmen. Denn ich schwöre, die Welt ist perfekt, es geht nur darum, dass wir es begreifen.

Die Furche: In Ihrer "Poetik der Grenze" haben Sie die Bedeutung von Grenzen sehr dynamisch und positiv formuliert. Wie wichtig ist die Fähigkeit, Grenzen zu ziehen?

Karahasan: Lassen Sie mich wieder von meiner Freundschaft mit Mile Babi´c erzählen. Ich habe einmal gesagt, es gibt keine Gewalt, keine Kraft, es gibt nichts unter dem Himmel, was mich dazu veranlassen könnte, zu behaupten, Jesus sei Gottes Sohn gewesen. Und es gibt keine Kraft und keine Gewalt auf Erden, die mich dazu veranlassen würde, meinem besten Freund Mile Babi´c zu sagen: "Falsch ist das, woran du glaubst." Verstehen wir uns? Die Grenzen entstehen stets. Auf einen Teil Ihrer Identität sind Sie gar nicht imstande zu verzichten, weil Sie diesen Teil nicht geschaffen haben, Sie haben ihn bekommen. Auf einen anderen Teil Ihrer Identität möchten Sie gar nicht verzichten, denn es hat Sie viel Mühe gekostet, so zu werden, wie sie eben sind. Auf wieder einen anderen Teil Ihrer Identität lassen Sie Ihre Nächsten nicht verzichten. Um den harten Kern entsteht eine Identität stets neu, je nachdem, mit wem Sie gerade zu tun haben. Die Grenze zwischen Ihnen und mir liegt viel weiter von diesem harten Kern ihres Wesens entfernt, als wenn Sie mit einer Frau, die Sie lieben, oder mit einem engen Freund, mit dem Sie zwanzig Jahre befreundet sind, oder mit einem Schriftsteller reden, in einer späten Stunde der Nacht, wenn Sie sein Buch lesen. Da liegt die Grenze zwischen Ihnen und ihm, dem Schriftsteller, irgendwo in Ihrer Seele.

Die Furche: Der Konflikt in Bosnien und konkret das, was Sie damals in Sarajevo erlebt haben, war für Sie sicher eine tiefe persönliche Prägung und ist wohl auch sehr zentral für Ihr literarisches Werk. Auf dem Umschlag Ihres neuesten Buches "Der nächtliche Rat" findet sich ein Textauszug, wo von der Vergangenheit die Rede ist, in die man jederzeit geraten könne, "wie in ein Fangeisen, das uns die Zeit aufgestellt hat". Halten Sie die Vergangenheit für bewältigbar oder geht es eher um ein Bannen, ein Umgehen mit der Vergangenheit?

Karahasan: Die größte und schlimmste List des Teufels ist es, uns zu überreden, Vereinfachungen als Wahrheit zu akzeptieren. So passiert es eben auch mit der so genannten Vergangenheitsbewältigung. Wir Menschen schenken die Existenz nicht. Das Bestehen kommt nicht von uns. Alles, was einmal existiert, existiert weiterhin, es ändert sich wohl die Form des Existierens, aber nur derjenige, der die Existenz geschenkt hat, kann sie zurücknehmen. Daher ist die Vergangenheit eigentlich immer präsent. Es ist unsere menschliche Dummheit, zu glauben, dass es nicht gibt, was ich nicht sehe.

Die Vergangenheit zu bewältigen, ist selbstverständlich nicht möglich. Die Vergangenheit zu verstehen, zu erkennen - oder es mindestens zu versuchen - ist schon möglich. Es wäre ein Verbrechen, wenn ich jetzt die Serben schlechthin für das, was in Srebrenica geschehen ist, verantwortlich machte. Das ist unsere Vergangenheit. Nicht die Serben sind verantwortlich. Aber es wäre verdammt gefährlich, auf Srebrenica oder die Nazi-Gräuel zu vergessen. Wir müssen uns unsere Vergangenheit, die gute und die böse Dimension dieser Vergangenheit bewusst machen, um Vereinfachungen zu vermeiden. Nur dazu sind wir der Vergangenheit gegenüber imstande. Wir haben keinen Grund, auf das großartige Erbe unserer Kultur zu verzichten, wir haben genauso wenig das Recht, auf die Gräueltaten unserer Tradition zu verzichten. Es geht darum, das Gute und das Böse, das Herrliche und das Schreckliche, so weit es überhaupt geht, zu konkretisieren und zu artikulieren, damit wir Vereinfachungen ausschließen können. "Österreich ist ein Naziland" - Quatsch. Es ist eine Schande, so etwas zu behaupten. "Die Deutschen sind ..." - das ist Unsinn. Die Deutschen gibt es nicht. Die Deutschen sind ein Konstrukt.

Es gibt eine ganz wunderbare Stelle im Essay "Sommer" meines Lieblings Albert Camus. Ein Mann fragt eine Frau: "Haben Sie dieses Kind zur Welt gebracht?" - "Ja, ich habe es", antwortet die Frau. - "Sie sind also seine Mutter?" - "Ach, das ist nicht so einfach, mein Herr, das ist nicht so einfach." Das ist es. Nichts ist so einfach, wie wir es gerne hätten. Europa, Islam, Christentum, die Welt. Bitte konkreter, konkreter!

Die Furche: Welche Bedeutung hat die Literatur im "dramatischen Modell"? Oder anders gefragt: Wenn man sich das öffentliche Leben als Bühne vorstellt, und auf dieser Bühne agieren hemdsärmelige Demagogen, Wein schlürfende Wirtschaftsbosse und Schenkel klopfende Mitläufer - in welcher Rolle steht die Literatur da oben?

Karahasan: Ich würde es so sagen: Literatur kann uns nicht dabei helfen, einen Hasen zu schlachten. Kann auch nicht dabei helfen, Bagdad zu bombardieren, Autos zu reparieren, Steuern zu hinterziehen. Literatur ist absolut nutzlos. Literatur hat ja keine Funktion. Aber Literatur ist eine der ältesten Tätigkeiten des Menschen. Solange der Mensch als Mensch existiert, isst er, trinkt er, liebt er - und erzählt Geschichten. Warum? Wieso existiert die Literatur so hartnäckig? Weil sie keine Funktion, wohl aber einen Zweck hat. Und dieser Zweck ist vielfältig, Einerseits verteidigt die Literatur die wunderbare Komplexität, Kompliziertheit des menschlichen Wesens. Sie erinnert uns Menschen daran, dass wir nicht nur Wesen der Vernunft sind, sondern auch ein pathetisches Universum haben, auch einen metaphysischen Kern in uns tragen, auch einen Körper haben, aber nicht nur diesen Körper, sondern auch ein inneres Leben. Literatur verteidigt uns vor der Aggression der exakten Wissenschaften, der Konsumgesellschaft, vor all den menschlichen Versuchen, uns auf eine einzige Dimension zu reduzieren.

Die Furche: Sie haben in Ihr "Tagebuch der Aussiedlung" (1993) den Brief eines Freundes aufgenommen. "Schreib uns, damit wir wissen, was los ist, und mit Dir teilen können." Literatur als Mit-Teilung, als Hilfe, zu überleben?

Karahasan: Ein kluger Herr behauptete: "Ich denke, also bin ich." Das stimmt nicht. Ich habe unter dem unmittelbaren Eindruck der Kriege die Erfahrung gemacht, dass es mich gibt, dass ich bin, solange jemand an mich denkt. Wenn Sie in Sarajevo im Dezember 1992 einen Brief bekommen, dann wissen Sie: es gibt mich, jemand denkt an mich.

Die Furche: Stichwort Sarajevo: mit welchen Worten würden Sie junge Leute nach Sarajevo einladen und welche Orte würden Sie ihnen zeigen, um ihnen "Ihre" Stadt nahe zu bringen?

Karahasan: Ehrlich gesagt käme es auf den konkreten jungen Menschen an.

Die Furche: Nehmen wir z. B. die Schüler aus der Berliner Hauptschule, an der es zu Gewaltexzessen gekommen ist. Diese Schüler bekommen vom Ministerium einen Aufenthalt in Sarajevo finanziert, und Sie sind ihr Begleiter für eine Woche. Was würden Sie diesen Jugendlichen zeigen?

Karahasan: Nochmals, ich kenne diese Leute nicht, kann also nicht sagen, wo hier ein Ansatzpunkt wäre. Ihnen zum Beispiel würde ich sagen, kommen Sie bitte nach Sarajevo mit, damit Sie sehen, wie wunderbar kompliziert unser Leben ist. Was hätte ich den Jungen in Berlin sagen können? Kommt mit nach Sarajevo, damit ihr seht, wie es ist, eine Familie zu haben? Aber auch in Sarajevo gibt es immer weniger Familien. Vielleicht könnte ich ihnen die Friedhöfe zeigen, wie groß die Friedhöfe in Sarajevo geworden sind, weil wir die Vereinfachungen, die ideologischen Schemata als Wahrheit angenommen haben? Oder kommt mit, damit ihr erfahren könnt, wie es ausgesehen hat, für das bloße Fortsetzen des Daseins den ganzen Tag unter Beschuss zu laufen? Ich weiß es nicht.

Auf jeden Fall könnte ich ihnen die Geschichte erzählen, dass das 20. Jahrhundert Europas in Sarajevo begonnen hat - auf einer Brücke, wo Gavrilo Princip im Sommer 1914 Erzherzog Franz Ferdinand erschossen hat. Dass das 20. Jahrhundert Europas in Sarajevo zu Ende gegangen ist - auf einer anderen Brücke, wo der Krieg 1992 begann. Dass dieses Jahrhundert von 1914 bis 1992 gedauert hat, viel weniger als 100 Jahre und doch viel zu lange, gemessen an dem, was es an Leid gebracht hat. Ich könnte aber auch eine andere Geschichte erzählen: Zwei Monate vor Ausbruch des Krieges stand auf der Wand des Hauptpostamtes in Sarajevo geschrieben: "Das ist Serbien." Zwei Tage später war darunter zu lesen: "Du Narr, das ist ein Postamt!" Dreieinhalb Jahre lang sind wir in Sarajevo beschossen worden, umgebracht worden, wir hungerten und dürsteten, weil wir versucht haben, das Offensichtliche, das unmittelbar Gegebene vor den Vereinfachungen, vor den ideologischen Schemata zu verteidigen, deshalb sind wir bestraft worden.

Wenn man uns hartnäckig Vereinfachungen als endgültige Wahrheit verkauft und das Offensichtliche wegnimmt, wenn wir ohne Mutter und ohne Bruder, ohne etwas mit der Hand zu tun, ohne Gespräch mit unseren Mitmenschen erwachsen werden, in einer virtuellen Welt, in einer Welt, die aus puren Begriffen besteht - dann wird es schwierig.

Die Furche: Gibt es heute in Sarajevo Orte, die das, was Sie jetzt gesagt haben, veranschaulichen könnten?

Karahasan: Was ich auf jeden Fall in Sarajevo jedem Besucher zeigen würde, ist der so genannte "Sarajevoer Kreis". Dieser Kreis besteht aus vier Heiligtümern. Jede Frau geht, wenn sie schlimme Träume gehabt hat, am Tag danach diesen Kreis. Sie besucht den Turbe der sieben Brüder, ein muslimisches Grabdenkmal, und gibt Almosen. Danach besucht sie die Kirche des heiligen Antonius, die Franziskanerkirche unter dem Bistrik. Danach besucht sie die kleine orthodoxe Kirche in der Nähe von Bascarsija, danach die Synagoge. Die altmodischen Frauen machen das, wie es bei den heutigen aussieht, weiß ich nicht. Zu meiner Zeit erklärten mir diese Frauen: "Weißt Du, der Gott ist einer, er spricht aber verschiedene Sprachen. Er offenbart sich in verschiedenen Formen." Nichts ist einfach nur einfach.

Das Gespräch führten Matthias Opis und Astrid Polz-Watzenig.

Chronist der Belagerung

DzÇevad Karahasan, geboren 1953 in Duvno/Jugoslawien, ist Erzähler, Dramatiker und Essayist. Er gilt als der bedeutendste zeitgenössische Autor Bosniens. Karahasan studierte Literatur-und Theaterwissenschaften und lehrte von 1986 bis 1993 Dramaturgie und Dramengeschichte an der Akademie für szenische Künste der Universität Sarajevo. Außerdem arbeitete er als Redakteur diverser Literatur-und Kunstzeitschriften. Seine Theaterarbeit während der Belagerung Sarajevos hat er im "Tagebuch der Aussiedlung" beschrieben. 1993 verließ er Sarajevo und lebte als Gastdozent und DAAD-Stipendiat in Salzburg, Berlin, Göttingen und Graz, wo er bis 2003 Stadtschreiber war. 1997 und 2000 erschienen seine beiden Romane "Scharijars Ring" sowie "Sara und Serafina". 2004 erhielt er für den Essayband "Das Buch der Gärten" den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Außerdem wurde Karahasan, dessen literarisches Werk inzwischen in viele Sprachen übersetzt ist, mit dem europäischen Essaypreis "Charles Veillon" und dem Herderpreis ausgezeichnet. Sein in diesem Frühjahr erschienenes Werk "Der nächtliche Rat" fand in den Feuilletons breite Beachtung. Karahasan lebt in Graz und Sarajevo.

Die vollständige Fassung des Interviews enthält das im Wieser Verlag erschienene Buch "Au contraire. Glaube, Emotion, Vernunft", das anlässlich des 60jährigen Bestandsjubiläums der Katholischen Hochschulgemeinde Graz am 18. Juni präsentiert wird.

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