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Widerstand gegen die Dummheit

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„Österreichs Juden haben wieder Angst“: Auf diesen ,,Spiegel“-Artikel vom Sommer hat nun ein Wiener Jude geantwortet, ebenfalls im „Spiegel“. Wir bringen Auszüge.

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„Österreichs Juden haben wieder Angst“: Auf diesen ,,Spiegel“-Artikel vom Sommer hat nun ein Wiener Jude geantwortet, ebenfalls im „Spiegel“. Wir bringen Auszüge.

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Lügen wir uns etwas vor? Wir Juden in Wien? Seit einem Jahr erklärt man mir nun, daß es diese anderen sind, die mir nach dem Leben trachten, die in der Vergangenheit leben und - unfähig, die eigene Mitschuld zu erkennen - den Mord von damals verharmlosen oder zumindest nicht darüber reden wollen.

Doch auch hier ist mein Erleben dieser Stadt differenzierter und vielschichtiger, wenn auch voller Widersprüche. Als würden Feind und Freund gemeinsam auftreten. Vielleicht auf Absprache?

Da geht ein Bundeskanzler mitten im Wahlkampf letzten Jahres zu Jörn Kippur in die Synagoge. Der Parteichef der österreichischen Volkspartei in Wien spricht von einer Vision, von einem

Osterreich, das weiß, was es getan hat, was es an sich selbst vernichtet und verschuldet hat. Ein Bürgermeister von Wien nimmt an der Beisetzung von geschändeten Torarollen teil.

Ich freue mich über eine Verwaltung, die aus dem Iran geflüchtete jüdische Kinder ohne Papiere ins Land läßt, sie unterstützt und ihnen Lehrer gibt, bis sie weiterziehen können; über eine Stadt, in der es einen pensionierten Kardinal gibt, der offen über die Mitschuld der Kirche an der Judenvernichtung im Dritten Reich spricht.

Alles Zufälle? Versuche, vergessen zu machen, daß in dieser Stadt der moderne Antisemitismus seinen Ursprung hat?

Mir und auch vielen anderen Juden hier hilft die relativierende Betrachtung der positiven Erlebnisse nicht. Wir leben hier in einer Stadt, wo es diese beiden Seiten gibt. Oft innerhalb einer Partei und ein und derselben Kirche.

Die Frage stellt sich vielmehr, warum es interessanter ist, über die Angst eines anderen zu berichten als über die Versuche, diese auszugleichen oder zu reduzieren.

Die Angst der Juden in Wien wurde in einer politischen Auseinandersetzung oder Polemik dargestellt. Es ging nicht um Mitgefühl, nicht die eigene Betroffenheit war das Motiv, darüber zu berichten. Durch die Dramatisierung der Opferrolle konnte der Täter im journalistischen Sinne „ertappt“ werden. Um diese Anklage eindrucksvoll zu gestalten, hat man uns Juden eben „benutzt“.

Durch genaue Recherche hätte man den Juden in Wien, die ihr Geschäft wegen der Stimmung hier schließen wollen, doppelt so viele gegenüberstellen können, die, wenn sie genug Geld hätten, hier gerne ein Geschäft eröffnen würden. Für jeden ausreisewilligen Juden finde ich zehn ausreisewillige Nicht-Juden.

Es entspricht der Phantasielo-sigkeit vor allem der Deutschen, daß sie, wenn immer es um Juden geht, in der Täter-Opfer-Polemik hängenbleiben. Juden sind entweder Täter in Israel oder Opfer des Judenhasses. Sehr selten hat man dabei als Betroffener das Gefühl, daß sich der Schreibende auch wirklich vorstellen kann, was für Gedanken in unseren Köpfen kreisen.

Der Antisemitismus gehört zu der Geschichte Wiens wie das Riesenrad und der Stephansdom. Aber im Widerstand gegen die Dummheit und auch mit der Unterstützung liberaler Kräfte in Wien gelang ein kultureller Höhenflug der Juden wie nie zuvor.

Das Verhältnis des einzelnen zur Vernichtung der Juden und zum Judentum wird heute immer mehr zu einem entscheidenden Faktor in der Beurteilung eines Menschen. Wer immer heute eine Rede hält, egal zu welchem Thema, bei dessen Ausführungen lauert man geradezu, wann die Worte Juden, Nazis oder Nationalsozialismus fallen.

Wie schön wäre es, wenn sie nicht mehr über uns sprechen würden. Einmal eine Rede über die Geschichte Österreichs, in der wir nicht vorkommen. Einmal eine Erklärung zur Lage der österreichischen Nation, in der nicht beteuert wird, wie wichtig die Frage der Juden ist.

Ein normales Verhältnis kann es so wenige Jahre nach der Vernichtung nicht geben. Aber schlechtes Gewissen, verlogene Beteuerungen und ein mitleidiges Gejammer, um das Kaninchen zu trösten, das zitternd vor der Schlange sitzt - darauf möchte ich verzichten.

Der neu entdeckte Unterschied zwischen Deutschland und Österreich, den Antisemitismus betreffend, ist für mich nicht nachvollziehbar. Immer noch hat man in Österreich keinen jüdischen Verleger ermordet, keinem jüdischen Arzt das Haus angezündet.

Daß es Juden in Osterreich schlechter geht als in Deutschland, ist eine dumme Polemik; daß es ihnen in Österreich besser geht als in Deutschland, ist vielleicht eine Lebenslüge, aber sie funktioniert.

Es nähert sich der März 1988. Vor fünfzig Jahren begann mit dem Anschluß Österreichs an Deutschland die Vernichtung der Juden. Was sollen wir Juden tun anläßlich dieses Jahrestages?

Wir sollten nicht mit „ihnen“ feiern! Nicht einmal mit „ihnen“ trauern. Für die Juden in Österreich sollte dieser Jahrestag ein Zeitpunkt sein, an dem wir an die Zerstörung „unseres“ Wien denken. Laßt die anderen Gedenkfeiern vorbereiten. Unser Platz ist, wenn wir es mit unserem Glauben vereinbaren können, in den Synagogen. Sie sollten offen sein an diesem Tag, um jenen einen Platz zu geben, die nur trauern wollen.

Es stimmt, in Wien gibt es wieder antisemitische Zeitungen, Politiker, die gegen Juden hetzen. Juden bekommen Drohbriefe und anonyme Anrufe. Trotzdem behaupte ich, daß ein Großteil der Juden gern hier lebt.

Wir registrieren mit Genugtuung und Freude, daß es zahlreiche, oft mutige Sympathieerklärungen gibt. Sie beruhigen uns nicht, aber verringern die Beunruhigung. Unabhängig von diesem Pingpongspiel für und wider Juden aber gibt es die Stadt Wien, die uns immer wieder ein Gefühl von Heimat vermittelt, das uns kein dummer Spruch und kein bösartiger Artikel reduzieren kann.

Ein echter Wiener genießt die Freuden des Lebens, auch wenn rundherum die Welt untergeht. Er singt, lacht, trinkt, speist, diskutiert und lebt und sieht die Schrift nicht an der Wand? Warum sollte ein Wiener Jude anders sein?

Peter Sichrovsky, 40, lebt alt Autor („Schuldig geboren. Kinder aus Nazifamilien“, Verlag Kiepenheuer & Witsch) in Wien. Der Beitrag ist ein Auszug aus: „Mit Eichmann und Mozart leben müssen. Was man als Jude in Wien empfindet“, in: „Der Spiegel“, 41/1987.

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