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Widerspenstige Soldaten Gottes

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In der letzten Zeit kam es fast jede Woche zu Zusammenstößen zwischen fanatischen religiösen Elementen und der israelischen Polizei. Die Unruhen begannen damit, daß jüdische religiöse Jugendliche extremer Observanz, die nur eine unbedeutende Minderheit der Jugend Israels darstellen, eine Aktion gegen die christlichen Missionsschulen durchführten. Dazu ist hinzuzufügen: In Israel sind fast alle christlichen Missionare Vertreter von Sekten, da die katholische Kirche sowie auch der Protestantismus sich kaum auf dem Missionsgebiet betätigen. Die Tätigkeit dieser Missionare ist ziemlich begrenzt: von den 600.000 israelischen Schulkindern besuchen höchstens 1200 jüdische Kinder christliche Missionsschulen. Doch extrem religiöse jüdische Kreise fanden in dem „Kampf gegen die Mission'1 eine Parole, mit deren Hilfe sie sich erhofften, religiöse Jugendliche um sich zu scharen. Die israelische Polizei ging gegen diese Jugendlichen, die in die Missionsschulen eindrangen und versuchten, die Kinder wegzujagen, energisch vor. Ein Teil der Jugendlichen wurde zu Gefängnisstrafen verurteilt und ein anderer Teil sieht noch seiner Strafe entgegen.

„Die Hüter der Mauer"

Die extrem religiösen jüdischen Kreise konzentrieren sich insbesondere in Jerusalem unter der Bezeichnung „Neturej Karta“ — zwei Worte aus der aramäischen Sprache, in der der Talmud geschrieben wurde, die „die Hüter der Stadt“ oder „die Hüter der Mauer“ bedeuten. Die Neturej Karta in Jerusalem wohnen in einem Stadtviertel namens Mea Schearim, deutsch: Stadtteil der 100 Tore. Es handelt sich um zirka 300 kinderreiche Familien, die meistens aus dem Osten Europas stammen und bereits vor zwei bis drei Generationen einwanderten, um in der heiligen Stadt Gottes zu leben. Die meisten Männer der Neturej Karta beschäftigen sich ausschließlich mit dem Talmudstudiunt, damit die . alte Flamme der Religion auch heute noch weiterglimme. Sie widersetzten sich im Jahre 1946 der Gründung des israelischen Staates, weil nach ihrer Überzeugung der Staat Israel nur als ein Staat Gottes existieren darf und Gott allein mit Hilfe des Messias solch einen Staat gründen darf. Das heißt, nur nach dem Erscheinen des Messias darf ein jüdischer Staat entstehen, und nur ein Staat, der ausschließlich nach den Gesetzen der Thora, wie sie auf

dem Berg Sinai verkündet wurden, gilt in ihren Augen als jüdischer Staat.

Juden, die Israel ablehnen

Aus diesen Gründen beteiligten sich die Neturej Karta nicht am Befreiungskrieg. Sie waren auch seinerzeit dazu bereit, in der Jerusalemer Altstadt unter jordanischem Regime zu leben, denn es ist ihrer Ansicht nach immer besser, unter einem nichtjüdischen Regime als Untertan zu leben, weil diese Nichtjuden Gottes Verkündung noch nicht erkannt haben. Dagegen haben Juden, die in einem nicht von Gott gewollten Staat leben, sich bereits

Ein „Getto“ in Jerusalem

Das Wohnviertel der Neturej Karta, in dem sich Frauen nur mit Strümpfen, langen Ärmeln und Kopfbedeckung auch an den heißesten Sommertagen sehen lassen dürfen, und Männer nur mit langen Ärmeln, langen Hosen und Kopfbedeckung geduldet werden, befindet sich fast direkt an der Grenze zur Altstadt Jerusalems, die sich in den Händen Jordaniens befindet. Ein großer Teil der Touristen und Pilger schließt in seinem Besuch Israel und Jordanien ein. Trotz des noch bestehenden Kriegszustandes zwischen Israel und Jordanien überschreiten diese Pilger und Touristen die Grenze in Jerusalem von Jordanien nach Israel und umgekehrt. Am Grenzübergang, Mandelbaumtor genannt, wimmelt es während der Reisesaison von hunderten Touristen, die bis zur Grenze" in einem Bus gebracht werden und nach dem Grenzübertritt in den Touristenbus des anderen Landes steigen und weiterfahren.

gegen Gott versündigt.

Die Neturej Karta weigern sich daher bis auf den heutigen Tag, israelische Identitätskarten anzunehmen, und sogar während der Lebensmittelknappheit verzichteten sie auf ihre Rationen, um den Staat Israel nicht anzuerkennen.

Die Neturej Karta leben in fast völliger Abgeschlossenheit von ihrer Umgebung, damit ihre Kinder gegen „schädlichen“ Einfluß immun bleiben. Viele Frauen unterhalten kleine

Geschäfte und einige Männer sind kleine Handwerker. Der Großteil der Neturej Karta lebt in sehr ärmlichen Verhältnissen, von Spenden religiöser Juden im Ausland, die meistens den wahren Charakter dieser religiösen Fanatiker überhaupt nicht kennen.

Trotz ihrer kleinen Anhängerzahl besitzen die Neturej Karta einen gewissen Einfluß auf die jüdische Jugend, die ihren Fanatismus, Idealismus und insbesondere ihre außergewöhnliche Genügsamkeit schätzt. Denn gerade im 20. Jahrhundert ist diese Genügsamkeit sogar in dem puritanischen Israel eine Seltenheitserscheinung.

Laut dem jüdischen Gesetz muß am Schabbath völlige Ruhe gewahrt werden. Da aber nur ein Teil der jüdischen Bevölkerung Israels praktizierend religiös ist, wird diese vollkommene Ruhe nicht überall im Lande eingehalten. Während die religiöse Bevölkerung den heiligen Schabbath als ausgesprochenen Ruhetag betrachtet, an dem jede Arbeit und physische Anstrengung untersagt ist — also auch Kochen, Autofahren usw. —, benützt die „liberale“ Bevölkerung den Schabbath als den einzigen Ruhetag der Woche zu Ausflügen, für Meerbäder, zu Tanzvergnügungen usw., die in den Augen der Religiösen eine Entheiligung des Schabbats darstellen. Die religiösen Parteien, die bisher in jeder Regierungskoalition das Zünglein an der Waage waren, konnten trotz ihrer Minorität gegen den Willen der nichtreligiösen Kreise eine Anzahl „religiöser“ Gesetze durchbringen. Zum Beispiel ist in

den meisten Orten des Landes das Fahren der öffentlichen Verkehrsmittel am Schabbath verboten.

Die Touristik wurde jedoch bisher auch am Schabbath fortgesetzt. Touristenbusse fahren durch das ganze Land und übernahmen auch am Schabbath den Verkehr zum Grenzübertritt am Mandelbaumtor. Doch dieser Verkehr passiert das Wohnviertel der Neturej Karta. Die Shiv- tej-Israel-Straße, • in die dieser Verkehr mündet, ist die einzige

Straße, die das israelische Jerusalem mit dem Mandelbaumtor verbindet.

Vor einigen Wochen forderten nun die Neturej Karta die sofortige Einstellung des Verkehrs am Schabbath durch ihr Wohnviertel. Als man ihrer Forderung nicht nachkam, versammelten sich die Kinder dieser Fanatiker vor den Autobussen und bewarfen sie mit Steinen. Die Polizei griff ein und es kam zu heftigen Auseinandersetzungen und zu Unruhen.

Auch die religiöse Öffentlichkeit verurteilte das Vorgehen der Neturej Karta, und Ministerpräsident Levi Eschkol erklärte im Namen der Regierung, in der auch die religiösen Parteien vertreten sind, daß der Verkehr auch am Schabbath weitergehen wird, um dem wichtigen Wirtschaftszweig Touristik nicht zu schaden.

Damit wurden aber die Schwierigkeiten noch nicht gelöst, denn die Neturej Karta sehen in dem Kampf um die Einhaltung der religiösen Gesetze ein heiliges Gebot; oft nennen sie sich auch die „Soldaten Gottes“.

Es wäre kein Problem, die Neturej Karta totzuschweigen, doch dies verstößt gegen die Grundfesten der israelischen Demokratie. Im Ausland identifiziert man die verschwindende Minderheit von einigen hundert Ne- turej-Karta-Anhängern mit allen religiösen Juden in Israel, so daß der Name Israel dadurch sehr geschädigt wird. Trotzdem versucht die israelische Regierung auch weiterhin, das Problem auf demokratischem Wege zu lösen. Denn auch wenn die Neturej Karta den israelischen Staat nicht anerkennen, sind sie — gewollt oder nicht gewollt — Israels Einwohner.

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