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Ringen um eine Konstitution

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Dutzende Frauen und Kinder versammelten sich um die baufällige Baracke eines Straßenhändlers in einem der Armutsviertel von Tel Aviv. Die Baracke sollte abgerissen werden, weil sie auf fremdem Boden stand, der heute teures Baugelände ist, und die Frauen und Kinder fühlten sich mit dem Straßenkändler solidarisch, denn er ist ihr Nachbar. Heute reißt man seine Baracke ab, morgen die ihre. Die Frauen bildeten eine lebendige Mauer, um die Polizisten fernzuhalten. Die Polizei schien machtlos. Ein junger Offizier gab den Befehl, und nun stürzten die Polizisten vor und stießen die Frauen, unter ihnen auch einige Schwangere, mit Gewalt zur Seite. In dem Getümmel tauchte ein Filmreporter auf. Er konnte die ganze Szene filmen, ohne dabei von den Beteiligten bemerkt zu werden. Prompt kam dieser Streifen in die Filmwochenschau. Doch nun mischte sich der israelische Filmzensor ein, behauptete, daß diese Rees!rtagfc:.ein fajsfihyis B,il4t;yssj; Pojissßi darstellt umdo serbot i die 'Nm-. fühfung. Die Angelegenheit kam bis zum Obersten Gericht. Es ging schon nicht mehr um den Filmstreifen, der nach Gerichtsentscheid später doch gezeigt wurde, sondern um die prinzipielle Frage einer Verfassung in Israel.

Fünfzehn Jahre ohne Verfassung

Bis auf den heutigen Tag, fünfzehn Jahre nach Staatsgründung, besitzt Israel noch keine Konstitution.

Did Gerichtsverhandlungen betreffs der Vorführung des obigen Filmstreifens behandelten unter anderem die Frage, wie weit in einem Rechtsstaat die persönliche Freiheit geht, die Freiheit des Ausdrucks, und ob ein Regierungsbeamter wie der Zensor die unbegrenzte Kompetenz hat, solch eine Freiheit einzuschränken. Das Oberste Gericht entschied gegen den Zensor. Das Problem einer Konstitution konnte es nicht lösen.

Basis: das Mandatsrecht

Das israelische Recht basiert auf dem Mandatsrecht, das in den Jahren 1919 bis 1948 in Geltung war und von der damaligen britischen Mandatsverwaltung eingeführt worden war. Um ein Chaos zu verhüten, wurde am 14. Mai 1948 mit der Staatsgründung von dem damaligen provisorischen israelischen Staatsrecht das Mandatsrecht als israelisches Recht proklamiert. Es wurde betont, daß diese Gesetze nur soweit Gültigkeit haben, solange sie sich nicht im Gegensatz zu den Grundprinzipien des neu gegründeten Staates befinden.

Mischung aus drei Staatsrechten

Das palästinensische Mandatsrecht war im Grunde genommen nichts anderes als ein eklektisches Recht. Als Palästina im Jahre 1917 von den britischen Truppen erobert wurde, herrschte im Land das ottomanische Recht, Dieses Recht fundierte auf dem mohammedanischen Rechtskodex, der Mejjele, und da dieses Recht für die moderne Zeit nicht mehr ausreichte, holten sich die damaligen türkischen Sultane auch das französische Recht zu Hilfe. Die britische Staatsverwaltung sah bald ein, daß das ottömani-sche Recht nicht den Bedürfnissen des Landes genügt. Um sich die Abfassung einer neuen Konstitution zu ersparen, fügte die Mandatsregierung das britische Recht zu dem ottomanischen Recht hinzu, und palästinensische Juristen formulierten ihre Anträge und Äußerungen unter Bezugnahme auf Präzedenzfälle des britischen Rechtes.

Die neuen Bedürfnisse des jungen Staates erforderten eine neue Gesetzgebung. Die Knesseth — das israelische

Parlament — nahm einige Steuergesetze, Zollgesetze usw. an, und das Oberste Gericht Israels statuierte in einem seiner Urteile, daß ein britischer Präzedenzfall nicht dauernde Gültigkeit gegenüber einem israelischen Gesetz haben muß.

Bei Staatsgründung proklamierte der provisorische Staatsrat, der später das israelische Parlament bildete, daß bis 1, Oktober 1948 eine Konstitution des Staates Israel verfaßt wird. Eine besondere Parlamentskommission wurde eingesetzt, um eine solche Konstitution, die die Prinzipien des neu gegründeten Staates enthält, auszuarbeiten. Es gibt zwar eine Gründungsurkunde des Staates Israel, in der freie Einwanderung für alle Juden und Freiheit des Individuums für die Einwohner des Staates usw. gesichert sind, doch das Oberste Gericht stellte fest, daß die Gründungsurkunde nicht an Stelle einer Konstitution oder an Stelle eines Gesetzes gelten kann und ihr Inhalt vom Rechtsstandpunkt aus nicht verpflichtend ist.

Die Gesetze der Thora

Die Hauptgegner einer Konstitution in Israel sind die religiösen Parteien. Nach jüdischem Glauben soll ein jüdischer Staat seine rechtlichen Grundfesten in den Gesetzen der Thora, der fünf Bücher Moses, finden. Sie sind bereit, die Gesetze der fünf Bücher Moses' mit Hilfe der „mündlichen Überlieferung“, das heißt des später verfaßten Talmuds, zu ergänzen. Doch eine neue säkulare Gesetzgebung kann dazu führen, daß Gesetze der Thora von Gesetzes wegen unbestraft übertreten werden, so daß eine solche Konstitution nicht mehr auf die Besonderheit des jüdischen Glaubens eingeht. Die religiösen Kreise erörterten auch die Frage der Autorität. Im Gegensatz zum Katholizismus, dessen religiöses Oberhaupt der Papst ist, besteht seit einigen Generationen kein solches religiöses Oberhaupt im Judentum. Dies führte dazu, daß viele Neuerungen des 20. Jahrhunderts nicht durch das jüdische Religionsgesetz erfaßt werden konnten. Um nur ein Beispiel zu geben: Wenn in den Büchern Moses' das Anzünden von Feuer am heiligen Sabbath verboten ist, weil zur damaligen Zeit eine solche Tätigkeit mit viel Arbeit verbunden war und der Sabbath als solcher ein Ruhetag war, ist auch heutzutage das Anzünden von elektrischem Licht, das heißt das Knipsen eines Schalters, verboten.

Um wieder auf die Konstitution zurückzukommen: Die religiösen Parteien sind der Ansicht, daß jede Konstitution in einem jüdischen Staat nur im Sinne der alten Thora gegeben werden kann, wobei die Formulierung dieses Sinnes soviel verschiedene Meinungen hervorbringt, daß sie überhaupt auf keinen gemeinsamen Nenner zu bringen ist.

In den Augen der orthodoxen Kreise in Israel ist der Staat Israel kein Staat im gewöhnlichen Sinn des Wortes, sondern ein einmaliges Land, das den Kindern Israels von Gott gegeben wurde. Jeder Jude sagt täglich in seinem Gebet: „Im nächsten Jahr in Jerusalem und... bringe uns in Frieden nach Zion (Israel).“ Dieser Annahme nach ist Israel nicht nur ein Asyl für verfolgte Juden, sondern auch ein religiöses Zentrum des Judentums.

Für alle Juden der Welt

Diese religiösen Parteien in Israel behaupten, daß eine Konstitution des jüdischen Staates Israel verpflichtend sein müsse für das ganze Judentum in der Welt. Daher könnte eine sekuläre Konstitution zu etwaigem Bruderzwist zwischen religiösen und antireligiösen Juden führen.

Doch diese Kreise sind nicht die einzigen Gegner der Konstitution. Die Aufgabe einer Konstitution ist unter anderem auch, den Bürger des Staates vor Übergriffen seiner Regierung zu schützen. Eine Tatsache, die der regierenden Majorität nicht immer genehm ist. Um nur ein Beispiel zu geben: Als vor einigen Jahren mit Hilfe politischer Intrigen Israels Oberrabbiner gewählt wurde, entschied das Oberste Gericht gegen diese Wahl. Dieser Schiedsspruch hätte eine Koalitionskrise heraufbeschworen, und um diese zu umgehen, nahm das damalige israelische Parlament ein Gesetz mit retro-aktiver Wirkung an, das ex postum die Wahl dieses Oberrabbiners anerkannte, so daß auch die Kompetenz des Obersten Gerichtes nur so lange Gültigkeit hat, solange das Parlament nicht retroaktiv gegen seine Entscheidungen Stellung nimmt.

Was die Regierung alles kann

Heute ist die Kompetenz der israelischen Regierung fast, unbegrenzt. • Mit Hilfe der Ausnahflßsgesetze der Mandatsregierung, die fast immer automatisch von neuem bestätigt werden, kann man jeden Bürger aus Sicherheitsgründen ohne Prozeß bis zu einem Jahr in Haft halten. Der Innenminister hat das Recht, jedem Bürger die Ausreisebewilligung vorzuenthalten und ihm die Ausgabe eines israelischen Passes zu verweigern, obwohl er Bürger dieses Staates ist.

• Die israelische Zensur ist befugt, Briefe, Postsachen usw. zu beschlagnahmen und zu vernichten.

• Die Regierung hat das Recht, Böden zu konfiszieren, wenn dies das Wohl des Landes verlangt. Erst dieser Tage kam eine Konfiskation von Böden, auf denen eine neue Stadt gegründet werden sollte, vor das Oberste Gericht und wurde von diesem bestätigt.

Der Kriegszustand und seine Folgen

Die Lage des Staates Israel ist eine besondere, da bis auf den heutigen Tag der Kriegszustand mit den arabischen Nachbarstaaten anhält. Dieser Zustand bedingt es, daß viele Maßnahmen zur Sicherheit des Landes notwendig sind, auch wenn diese in gewissem Maße die Freiheit des Bürgers beeinträchtigen.

Doch im Gegensatz dazu läßt der innerpolitische Kampf in Israel nichts an Heftigkeit zu wünschen übrig. Oft sind die verschiedenen politischen Gegner nicht sehr wählerisch in ihren Kampfmethoden, so daß die Gefahr besteht, daß vermeintliche Sicherheitsmaßnahmen auch gegen politische Gegner angewandt werden, ohne daß diese sich gegen solche Maßnahmen der Regierungsmajorität auf gesetzlichem Weg zur Wehr setzen können.

Die israelischen Regierungskreise, die zum größten Teil nicht dem religiösen Lager angehören, sind heute der Ansicht, daß es noch viel zu verfrüht sei, eine israelische Verfassung auszuarbeiten und anzunehmen. Sie weisen darauf hin, daß in Israel, ähnlich wie in England, die Möglichkeit besteht, mit Hilfe von Grundgesetzen langsam eine Konstitution herauszukristallisieren. Es gibt heute schon einige Grundgesetze des Staates Israel, wie zum Beispiel das Wahlgesetz und das Gesetz zur Einsetzung einer Regierung. Diese Gesetze können nur mit einer vollen Majorität abgeändert oder annulliert werden, daher mit mindestens 61 Stimmen der 120 Parlamentsmitglieder. Alle anderen Gesetze können mit einer gewöhnlichen oder ganz zufälligen Majorität angenommen, geändert oder annulliert werden. Obzwar die theoretische Notwendigkeit einer YerfassunS von fast allen Gesellschaftskreisen in Israel anerkannt wird, kann “auch die kommende Parlamentsdiskussion in der Knesseth von Israel zu keinem konkreten Beschluß führen. Die Anschauungen und Interessen der diversen Parteien sind zu verschieden, um eine Verfassung zu formulieren, die den Erfordernissen und Bedürfnissen eines modernen Staates in jeder Weise gerecht wird.

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