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Antisemitismus in Rußland

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Der Stellvertretende Ministerpräsident der Sowjetunion, Benjamin Dymschitz, General David Dragonski, Held der Sowjetunion, der bekannte Violinvirtuose Leonid Kogan, einer der populärsten Komödienschauspieler, Reikin, und über drei Dutzend andere prominente Juden versammelten sich vergangene Woche im Haus der Freundschaft in Moskau. Sie gaben für zirka 300 In- und Auslandsjournalisten eine Pressekonferenz, bei der sie Israel mit Nazideutschland verglichen. Die meisten der anwesenden Juden unterzeichneten ein Schreiben, in welchem sie Israel aufs schwerste anklagten. Einige Tage darauf veröffentlichten 39 Juden, zum größten Teil Anhänger freier Berufe, einen öffentlichen Brief an den Pressechef der russischen Regierung, Leonid Samjatin, der diese Pressekonferenz geleitet hatte. Sie forderten ihn auf, auch ihnen zu gestatten, eine Pressekonferenz abzuhalten, um diese anti-israelische Kampagne zu verurteilen. Sie bezeichneten sich als „Juden, die jederzeit bereit sind, alles hinter sich zu lassen, um nach Israel auszuwandern — wenn nötig zu Fuß“.

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Der Stellvertretende Ministerpräsident der Sowjetunion, Benjamin Dymschitz, General David Dragonski, Held der Sowjetunion, der bekannte Violinvirtuose Leonid Kogan, einer der populärsten Komödienschauspieler, Reikin, und über drei Dutzend andere prominente Juden versammelten sich vergangene Woche im Haus der Freundschaft in Moskau. Sie gaben für zirka 300 In- und Auslandsjournalisten eine Pressekonferenz, bei der sie Israel mit Nazideutschland verglichen. Die meisten der anwesenden Juden unterzeichneten ein Schreiben, in welchem sie Israel aufs schwerste anklagten. Einige Tage darauf veröffentlichten 39 Juden, zum größten Teil Anhänger freier Berufe, einen öffentlichen Brief an den Pressechef der russischen Regierung, Leonid Samjatin, der diese Pressekonferenz geleitet hatte. Sie forderten ihn auf, auch ihnen zu gestatten, eine Pressekonferenz abzuhalten, um diese anti-israelische Kampagne zu verurteilen. Sie bezeichneten sich als „Juden, die jederzeit bereit sind, alles hinter sich zu lassen, um nach Israel auszuwandern — wenn nötig zu Fuß“.

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Fast jede Woche treffen in Israel, und letztens auch in anderen westlichen Ländern, solche Briefe ein. Einige dieser Briefe stammen aus Georgien, andere aus Riga und wieder andere aus Moskau. Zumeist werden sie einigen Auslandsjournalisten zugeschmuggelt oder westlichen Touristen zur Weiterbeförderung mitgege' ^n, und einige gelangten sogar mit gewöhnlicher Post in das Ausland. Der Inhalt der Briefe ist fast immer derselbe. Es wird darin berichtet, daß die Unterzeichner sich bereits einige Male an das Innenministerium gewandt und um Ausreise gebeten hätten. Einige beklagten sich, daß sie nach Eingabe des Gesuchs von ihren Arbeitsplätzen verwiesen worden seien, oft monatelang keine Arbeit bekommen hätten und sich nur mit Hilfe von Verwandten vor dem Hungertuch retten könnten. Trotz der 50 Jahre Sowjetregime, in denen alles versucht wurde, um die Juden zu assimilieren, gibt es noch viele, die als Juden leben wollen. Obwohl der Antisemitismus in der Sowjetunion offiziell verboten ist, besteht er fast in allen Gesellschaftskreisen. Das Verhältnis der Sowjetunion zu ihren Juden ist zeitlich in verschiedene Phasen einzuteilen. In der Oktoberrevolution spielten die jüdischen Kommunisten eine große Rolle. Die jüdischen Kommunisten wollten eine neue jüdische Kultur schaffen, die im Gegensatz zum Zionismus stehen sollte. Es wurden jiddische Schulen eröffnet, jiddische Buchverlage aufgemacht und jiddische Theatergruppen gegründet. Um dem jüdischen Volk mehr nationalen Charakter zu verleihen, wurde der Landstreifen Birobidschan im Fernen Osten am Amur ausgewählt, um dort die Juden als autonome Nation anzusiedeln. Es kamen einige tausend Juden aus den USA, aus Deutschland und Palästina, um an dem Aufbau eines kommunistisch-jüdischen Nationalheims mitzuarbeiten. Die erste Landessprache war dort Jiddisch. In Birobidschan machte jedoch der anfängliche Pioniergeist einer Stagnation Platz, und von den 160.000 derzeitigen Einwohnern sind nur noch 15.000 Juden.

Die jiddischen Schulen wurden geschlossen. Und von dem jüdischen Nationalheim ist nicht mehr viel übrig geblieben.

Als in den dreißiger Jahren die Schauprozesse in Moskau begonnen hatten, befand sich unter den Verurteilten und Hingerichteten eine große Zahl von Juden. Zu dieser Zeit wurde das erste Mal der Antisemitismus aufh offiziell spürbar. Die Juden wuroen kollektiv beschimpft, doch gegen jüdische Angeklagte ging man besonders scharf vor. *

Ein vorübergehender Frühling in den Beziehungen der Sowjetunion mit dem jüdischen Volk begann während des zweiten Weltkrieges, als die Juden ein antifaschistiscl. :s Komitee bildeten, dessen Aufgabe es war, unter den Juden der Welt Hilfe für die Sowjetunion zu mobilisieren. Im Jahre 1947 kämpfte der russische Vertreter in der UNO für einen jüdischen und arabischen Staat. Er stimmte für die Teilung des damaligen Mandatspalästina und für die Errichtung eines jüdischen Staates. Bei Staatsgründung war die Sowjetunion die erste Regierung, die Israel anerkannte. Aber verhältnismäßig kurz danach wurden alle prominenten jiddischen Schriftsteller und Schauspieler verhaftet und deportiert. Der große jüdische Schauspieler Michoels, der in jiddischer und russischer Sprache auftrat, sowie 26 Schriftsteller wurden ohne Prozeß einfach hingerichtet. Man wollte den Juden in der Sowjetunion das Rückgrat brechen. In der Sowjetunion ist die Religion nur „Opium des Volkes“ und wird auf das heftigste bekämpft. Die jüdische Religion wird jedoch noch schärfer verfolgt als andere. Die Zahl der Synagogen und Bethäuser fiel in Rußland von 450 im Jahre 1956 auf heute zirka 55 ab und geht weiter zurück. In der ganzen UdSSR gibt es nur ein einziges rituelles jüdisches Schlachthaus, welches nur sporadisch arbeitet, und nur ein Rabbinerseminar mit fünf Schülern. Vor zehn Jahren gab es noch 17 jiddische Theater, heute gibt es nur noch einige Amateurgruppen. Die Juden in der Sowjetunion werden zwar als, Volksstamm nicht anerkannt, doch ist in ihren Pässen die Nationalitätsbezeichnung „Jude“. Eine halbe Million hat auch Jiddisch als ihre Muttersprache angegeben. Als vor dem Sechstagekrieg die Politik der Sowjetunion immer antiisraelischer wurde, mündete sie in eine latente antizionistische Hetze. Die Lage der Juden innerhalb der Sowjetunion wurde dadurch stark beeinflußt, denn trotz 50jähriger kommunistischer Gehirnwäsche stellte sich gerade bei der jüdischen Jugend ein bis dahin nicht gekannter jüdischer Nationalismus ein. Viele Tausende dieser Jugendlichen versammeln sich jedes Jahr am Ende des Laubhüttenfestes bei der großen Synagoge in Moskau, um durch ihre Präsenz ihr Judentum zu zeigen. Je intensiver die Angriffe des Kremls gegen die „verbrecherischen Zionisten“, gegen den „nazistischen jüdischen Staat“, gegen die „Faschisten in Israel“ und gegen die „Agenten des Imperialismus“ wurden, um so mehr schlössen sich die jungen Juden zusammen.

*

Bis vor einigen Monaten versuchte Israel das Problem der zweieinhalb Millionen Juden der Sowjetunion zu ignorieren. Man wollte die Beziehungen zur Sowjetunion nicht weiterhin verschlechtern, denn trotz des Abbruchs der diplomatischen Beziehungen seit dem Sechstagekrieg kamen immerhin einige russische Juden im Zuge der Familienvereinigung offiziell nach Israel. In den letzten Monaten wurde die antiisraelische Kampagne in der Sowjetunion aber verstärkt, sie bekam eine ausgesprochen antisemitische Note. Daraufhin lancierte der Staat Israel, zusammen mit verschiedenen Organisationen des Weltjudentums, eine Aufklärungsaktion, um das Weltgewissen auf die tragische Lage der sowjetischen Juden zu lenken.

Die Sowjetunion sah in dieser Aufklärungsaktion eine Bedrohung, wurde doch der Versuch gemacht, die Angelegenheit vor verschiedene UNO-Instanzen zu bringen. Die russische antizionistische Kampagne bekam dadurch in der letzten Zeit immer mehr antisemitische Züge. Juden wurden vielfach als Kosmopoliten dargestellt, die Identifizierung mit dem Staate Isreal wurde verpönt. Sogar die moskautreue kommunistische Partei Israels bekam die russische Zensur am eigenen Leib zu spüren. Der Artikel des Generalsekretärs Meir Vilner, der in Israel veröffentlicht wurde, wurde auch in der „Prawda“ gedruckt. Allerdings die Passage, in der er berichtete, daß Rußland die Errichtung des Staates unterstützt und als erstes anerkannt habe, wurde in der „Prawda“ gestrichen. Viele sehen in der antiisraelischen Kampagne viel mehr als nur einen ideologischen Krieg, nämlich einen integralen Teil der russischen Nahostpolitik. Andere hingegen meinen, sie sei ein Symptom der Schwäche. Das deutsche Kulturinstitut, 1932 in

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