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Diskretion um Madame

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Nachdem die französische Presse zum „Mann des Jahres” ausgerechnet eine Frau, Gesundheitsminister Simone Veil, gekürt hatte, war zu erwarten, daß zahlreiche Biographien über diese Persönlichkeit publiziert würden. Die hohe Intelligenz, die Durchschlagskraft, das politische Fingerspitzengefühl Simone Veils, bewährt in härtesten Parlamentsdebatten, wurden hervorgehoben. Natürlich sezierten die Journalisten den Lebenslauf, die Freizeitbeschäftigung, das Familienleben und die politischen Aspirationen der Frau Gesundheitsminister. Nicht nur einmal wurde dabei die Vermutung laut, der Präsident der Republik werde im weiteren Verlauf der Entwicklung Simone Veil als Ministerpräsidenten bestellen. Studiert man das Curriculum vitae dieser Frau, so wird man feststellen, daß sie mit 17 Jahren, gemeinsam mit ihren Eltern und Geschwistern, von der Gestapo verhaftet und in das KZ Auschwitz verschleppt wurde. Über die Gründe dieser Verhaftung schweigen sich die Kommentatoren aus. Im allgemeinen wurden französische Staatsbürger nur dann von der deutschen Polizei festgenommen, wenn sie Mitglieder der Widerstandsbewegung, Kommunisten oder Juden waren; abgesehen von einigen marginalen Kategorien wie Freimaurern und Bibelforschern. Nur wenige Informationen verraten, daß die Familie Simone Veils wohl nicht religiös, aber abstammungsmäßig dem Judentum zuzuordnen ist. Der Eindruck kann nicht verwischt werden, daß alles unternommen wurde, um diese Tatsache zu verschleiern. Dagegen wird die Zugehörigkeit ihres Vaters zum konservativen rechten Zentrum hervorgehoben. Auch ihr Mann und sie stünden im Bannkreis der christlichen Demokratie und deren Nachfolgeorganisationen.

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Nachdem die französische Presse zum „Mann des Jahres” ausgerechnet eine Frau, Gesundheitsminister Simone Veil, gekürt hatte, war zu erwarten, daß zahlreiche Biographien über diese Persönlichkeit publiziert würden. Die hohe Intelligenz, die Durchschlagskraft, das politische Fingerspitzengefühl Simone Veils, bewährt in härtesten Parlamentsdebatten, wurden hervorgehoben. Natürlich sezierten die Journalisten den Lebenslauf, die Freizeitbeschäftigung, das Familienleben und die politischen Aspirationen der Frau Gesundheitsminister. Nicht nur einmal wurde dabei die Vermutung laut, der Präsident der Republik werde im weiteren Verlauf der Entwicklung Simone Veil als Ministerpräsidenten bestellen. Studiert man das Curriculum vitae dieser Frau, so wird man feststellen, daß sie mit 17 Jahren, gemeinsam mit ihren Eltern und Geschwistern, von der Gestapo verhaftet und in das KZ Auschwitz verschleppt wurde. Über die Gründe dieser Verhaftung schweigen sich die Kommentatoren aus. Im allgemeinen wurden französische Staatsbürger nur dann von der deutschen Polizei festgenommen, wenn sie Mitglieder der Widerstandsbewegung, Kommunisten oder Juden waren; abgesehen von einigen marginalen Kategorien wie Freimaurern und Bibelforschern. Nur wenige Informationen verraten, daß die Familie Simone Veils wohl nicht religiös, aber abstammungsmäßig dem Judentum zuzuordnen ist. Der Eindruck kann nicht verwischt werden, daß alles unternommen wurde, um diese Tatsache zu verschleiern. Dagegen wird die Zugehörigkeit ihres Vaters zum konservativen rechten Zentrum hervorgehoben. Auch ihr Mann und sie stünden im Bannkreis der christlichen Demokratie und deren Nachfolgeorganisationen.

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Wird es als eine Schande angesehen, sich im Frankreich des Jahres 1975 zum Judentum zu bekennen und als ihr Repräsentant maßgebliche staatliche und politische Verantwortung zu übernehmen? Hat dieser durchaus liberale Staat heute noch nicht das Problem der 750.000 jüdischen Mitbürger gemeistert? Neben der Sowjetunion und den USA hat Frankreich die größte Zahl von Juden in seinem Staatsverband. Obwohl das Judentum die französische Zivilisation ungemein bereicherte und befruchtete, versuchen die Behörden, einen unterschwelligen Antisemitismus nicht virulent werden zu lassen. Die öffentliche Meinung betrachtet aber mit einem etwas zwiespältigen Gefühl all jene Mitbürger, denen manchmal zu Recht, oft auch zu Unrecht nachgesagt wird, sie seien mosaischer Abstammung.

Die größte Staatskrise der Dritten Republik wurde durch die Affäre des jüdischen Hauptmannes Dreyfus ausgelöst. Mit Hilfe gefälschter Dokumente wurde dieser Offizier angeklagt, zugunsten des kaiserlichen Deutschland Spionage betrieben zu haben. Eine Front der konservativen Kräfte, gebildet aus Vertretern der Armee, der Kirche und des hohen Bürgertums, entfachte einen Kulturkampf, der Frankreich auf das schwerste erschütterte. Obwohl zahlreiche Historiker pflichtbewußt alle Hintergründe des Prozesses Dreyfus untersucht haben, vermochte Frankreich bis in unsere Tage über dieses wichtige Thema der jüngeren Vergangenheit keinen Film zu produzieren oder ein repräsentatives Theaterstück dem Publikum zu bieten.

Das Thema Dreyfus war absolut tabu.

15 Jahre lang hat die französische Zensur den 1937 von William Dieterle in Hollywood gedrehten Film „Das Leben Zolas” verboten. Als vor nicht allzulanger Zeit der zweite Kanal der nun verstorbenen ORTF eine Diskussion über diesen Fall programmiert hattę, wurde dies als gewagtes Unternehmen gewertet. Bezeichnenderweise gelang es den Autoren dieser Sendung nicht, dieses Gespräch mit einem französischen Bildstreifen einzuleiten. Mit Verwunderung vermerkt man Ende Jänner 1975 zum erstenmal einen französischen Langspielfilm unter dem Titel: „Dreyfus, oder die untragbare Wahrheit.” Er wird eine historisch genaue Darstellung der Affäre des jüdischen Hauptmannes bieten. Der gleiche Regisseur, Jean Chėrasse, mußte 1966 eine Rekonstruktion des Falles Dreyfus, bestimmt für das Fernsehen, auf Grund zahlreicher Einsprüche und eines starken politischen Drucks unterbrechen. Wer also glaubt, die Geschichte der Dritten Republik werde nur unter historischen Kriterien gewertet, irrt sich galtig.

Wie die Abstammung der Frau Gesundheitsminister Simone Veil unterschlagen wird, so wagt auch die Fünfte Republik nur selten, Farbe zu bekennen und sich mit den Lebensbedingungen der französischen Juden zu beschäftigen. Einen Höhepunkt des jetzigen Regimes bezeichnet die Pressekonferenz General de Gaulles vom 27. November 1967. Damals meinte der Gründer des modernen Frankreich mit seiner bekannten Geste des Olympiers, der über Persönlichkeiten, Völker und Staaten urteilt, die Juden seien geblieben, was sie zu allen Zeiten waren: ein Volk der Elite, selbstsicher und herrschsüchtig. Seine Worte riefen damals eine erregte Polemik hervor. Jüdische Front- und Widerstandskämpfer protestierten energisch. Hochgestellte Persönlichkeiten, die sich zum Judentum bekennen, wie der weltbekannte Soziologe Raymond Aron, der Nobelpreisträger Jacob oder Renė Cassin, Mitverfasser der Menschenrechtsdeklaration der UN, und zahlreiche namhafte Professoren richteten an de Gaulle einen offenen Brief.

Es ist schon lange her, daß eine Meinungsumfrage die Einstellung der Bevölkerung zu den Juden fixiert hat. Die letzte diesbezügliche Sehr umfangreiche Enquete wurde am Ende der sechziger Jahre publiziert. Wir glauben, berechtigterweise annehmen zu dürfen, daß die damals ermittelten Zahlen auch Anfang 1975 mit nur geringen Abweichungen Gültigkeit besitzen. Von den befragten Katholiken bewiesen 40 Prozent eine „rassische” Abneigung gegen Juden, 58 Prozent gegen Neger und 65 Prozent gegen Araber.

Was der „Stürmer” unseligen Angedenkens von Generationen antisemitischer Kreise übernommen hat, ist auch in Frankreich gegenwärtig nicht auszurotten. Die französischen Christen, soweit sie nicht bereit sind, den letzten Weisungen des Vatikans in der Judenfrage nachzukommen, verwenden dieselben Klischeevorstellungen, die uns auch im deutschsprachigen Raum begegnen. Da wird von „Bedrohung der nationalen Substanz” gesprochen. Die Berichterstatter scheinen zu wissen, in welchem Ausmaß das französische Kulturleben „von den Juden beherrscht wird”. Die Redaktionen aller Pariser Tageszeitungen seien zum Beispiel mit Juden übervölkert. Sonderbarerweise muß der Experte des Pariser Zeitungsmarktes die Juden in diesem Sektor buchstäblich mit der Lupe suchen. Wie sehr der Antisemitismus einen günstigen Nährboden findet, zeigen die Vorfälle, die sich 1974 in Chälon und einige Jahre vorher in Orleans und Amiens abgespielt haben. In den genannten Städten wurden Inhaber von Boutiquen und Schuhgeschäften beschuldigt, sie hätten mit den raffiniertesten Tricks rudelweise junge Kundinnen betäubt und sie der Prostitution beziehungsweise den Harems der Ölscheichs zugeführt. Es stellte sich selbstverständlich heraus, daß kein Wort ah diesen Verdächtigungen wahr war. Bezeichnenderweise handelte es sich jedoch bei allen verleumdeten Kaufleuten um jüdische Mitbürger. So sehr die Staatsführung die Rechte aller Zeitgenossen respektiert und zwischen Juden und Nichtjuden offiziell keinen Unterschied macht, so sehr blüht der Antisemitismus in seiner primitiven Form lustig weiter.

Und die auflodernde Begeisterung für Israel, wie sie 1967/68 festzustellen war, ist ziemlich verschwunden. Monsieur Dupont ist durchaus bereit, für seine heilige Kuh, das Auto, den Staat Israel zu opfern.

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