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Blüten aus dem rechten Sumpf

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Die Bewohner der französischen Hauptstadt sind daran gewöhnt, daß es zumindest einmal im Monat im Zuge politischer Aufmärsche zu Verkehrsstörungen kommt. Bei einer riesigen Demonstration Anfang dieses Monats ist es freilich nicht bei Verkehrsstörungen geblieben:

Denn da füllten Hunderttausende von Menschen die Boulevards, demonstrierten Angehörige aller politischen Parteien, Gewerkschaften und sämtlicher Berufsgruppen. Seit Mai 1968, dem Höhepunkt der damaligen Staatskrise, hatte es so etwas nicht mehr gegeben.

Der Grund dafür: Am 3. Oktober war offensichtlich geworden, wovor Intellektuelle, Politiker und Gewerkschafter seit Monaten gewarnt hatten: „Der Faschismus, der Antisemitismus, der Rassismus bedrohen erneut die Einrichtung des Staates!"

Eine Bombe, die am 3. Oktober vor der Synagoge in der Rue Copernic explodierte (vier Tote, über 30 Verletzte), führte den Franzosen einmal mehr mit aller schrecklicher Konsequenz vor Augen, daß in ihrem Staat in gewissen Schichten der Bevölkerung nach wie vor ein latenter und offener Antisemitismus existiert, der auch noch heute in brutalster Art und Weise sein schreckliches Antlitz zeigt: im nackten Terror.

Was die Franzosen zusätzlich alarmierte: In der Rue Copernic waren „Profis" am Werk gewesen, geschulte Extremisten - aller Wahrscheinlichkeit nach Angehörigederäußersten Rechten.

Die Empörung war groß. In den meisten Städten Frankreichs fanden Kundgebungen statt. Was dabei für die Beobachter besonders beeindruckend war: Erstmals seit der Gründung der Fünften Republik zeigten sich Mitte-Parteien und die Angehörigen der Linken in einer geschlossenen Front, um gemeinsam gegen diese gefährlichen Auswüchse in der französischen Innenpolitik zu demonstrieren.

Gegenwärtig leben in Frankreich rund 650 000 Juden, was immerhin die viertgrößte jüdische Gemeinschaft in der Welt nach Israel, den USA und der Sowjetunion bedeutet.

Mehrheitlich kamen sie aus Nordafrika: Gemeinsam mit den Algerienfranzosen hatten sie sich aus den ehemaligen nordafrikanischen Departements nach dem Mutterland abgesetzt und hier vor allem in den unteren Schichten Unmut ausgelöst, zumal die Fremdenfeindlichkeit bei dieser Gruppe gewissermaßen Tradition hat.

Tradition hat in Frankreich aber genauso der Antisemitismus: die Dreyfus-Affäre, die Ausfälle gegen den jüdischen Sozialistenchef Leon Blum, die Kollaboration französischer Faschisten mit der deutschen Besatzungsmacht, die zur Deportation Hunderttausender

jüdischer Männer, Frauen und Kinder in die Nazi-Konzentrationslager führte - dies nur die bekanntesten historischen Beispiele der Judenverfolgung in Frankreich.

Rassismus, Antisemitismus - dieser Sumpf des politischen Extremismus ist auch in Frankreich noch nicht ausgetrocknet. Im Gegenteil: Auch heute wachsen aus ihm eine Vielzahl radikalrechter Zellen. Meistens bestehen sie nur einige Zeit, führen ein paar mehr oder weniger spektakuläre Aktionen durch, lösen sich dann aber wieder auf. Nur einige wenige zeigen größere Lebensdauer, zum Beispiel die „Neue Ordnung".

Meistens sind es junge Leute, die sich in solchen Zellen zusammenfinden. Sie übernehmen Slogans und Symbole der NSDAP, stellen den Antisemitismus in den Mittelpunkt ihrer „Ideologie", beschmieren jüdische Geschäfte sowie Friedhöfe, werfen Molotov-Cocktails und legen Bomben:

Seit 1975 waren es einer Aufstellung von „Le Monde" zufolge mehr als 120 kleinere und größere antisemitischer Anschläge, die in Frankreich zu verzeichnen waren.

Besonders faszinierend auf die jungen Extremisten wirkt die Mystik der SS: Und so ist denn in ihren jeweiligen Programmen von einer „neuen Herrenrasse", von der „Bildung politischer Eliten" usw. die Rede: Dies alles im Jahre 1980!

Nährboden für diese Extremisten ist aber nicht nur der latente Antisemitismus und die Fremdenfeindlichkeit in unteren Schichten. Auch von rechtsorientierten Intellektuellen werden die Theorien von der „biologischen Selektion", von der „strukturalen Ungleichheit", von der „natürlichen Gegebenheit der Eliten" vertreten und propagiert, so von der „Neuen Rechten", die sich vor nicht allzu langer Zeit großer Publizität erfreuen konnte.

Die französische Regierung, die bislang vor allem mit der Verfolgung der extremen Linken beschäftigt war, soll nun nach dem Wunsch aller Parteien viel nachdrücklicher auch das extrem rechte Lager kontrollieren. Was nicht einfach sein wird: Immerhin gibt es in der Fünften Republik 1,7 Millionen Arbeitslose, darunter allein 600.000 Jugendliche - ein gewaltiges Reservoir, das nur allzugerne auf radikale Parolen anspricht.

Im gegenwärtigen Stand der politischen Entwicklung scheint es aber kaum wahrscheinlich, daß die Neo-Faschisten entscheidend Terrain gewinnen können. Dennoch: Ihre Angriffe auf Leben und Eigentum von Demokraten, vor allem Juden, könnte eine Panik erzeugen, die nicht voraussehbare Folgen für einen liberalen Staat haben kann.

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