"Nicht konsequent bekämpft"

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Der Politologe Stephan Grigat erklärt, was die aktuelle jüdische Abwanderung mit der Zweiten Intifada zu tun und was religiöser mit rassistischem Antisemitismus gemeinsam hat.

DIE FURCHE: Hochrangige europäische Politiker sprechen von einem Exodus der Juden aus Europa. Ist das alarmistisch oder berechtigt?

Stephan Grigat: Den Begriff finde ich zu dramatisch, aber die Abwanderung nimmt tatsächlich deutlich zu. Diese Entwicklung zeichnet sich schon seit 13 oder 14 Jahren ab, etwa seit der Zweiten Intifada im Jahr 2000. Seitdem hat sich die Diskussion in jüdischen Gemeinden in Europa verändert.

DIE FURCHE: Inwiefern?

Grigat: Eine antisemitische Grundstimmung gehört in Europa zur jüdischen Lebensrealität, das ist man gewöhnt. Wenn aber verbale Attacken auf der Straße zur Regel werden, physische Übergriffe zunehmen, stellt sich Jüdinnen und Juden die Frage, ob sie ihren Kindern diesen Zustand zumuten können. Dann wird die Möglichkeit, nach Israel zu emigrieren, zu einer realen Option.

DIE FURCHE: Manche Nicht-Juden fragen sich, warum man ausgerechnet in einem von Krieg gebeutelten Land Sicherheit sucht.

Grigat: Das zeigt, dass die nichtjüdische Gesellschaft sich schwer tut, die jüdische Erfahrung des Nationalsozialismus zu verstehen: sechs Millionen Juden wurden ermordet, man stand dem Morden wehrlos gegenüber, und die Welt interessierte sich nicht dafür. Damit so eine Situation niemals wieder eintritt, gibt es den Staat Israel, die israelische Armee. Niemand verlässt sich darauf, dass sich in Europa eine Immunität gegen Antisemitismus ausgebildet hat.

DIE FURCHE: In der gängigen Erzählversion ist muslimischer Antisemitismus die größte Bedrohung.

Grigat: Es gibt ein massives Problem mit islamistischem Antisemitismus in Europa, aber durchaus auch mit Judenfeindlichkeit aus christlichem oder deutsch-türkischem Umfeld. Antisemitismus nimmt immer dann zu, wenn er nicht konsequent bekämpft wird. Wenn auf politischer und gesellschaftlicher Ebene nicht klar Stellung bezogen und sanktioniert wird. In französischen Schulen etwa wurden antisemitische Sager von jungen Muslimien lange relativiert, mit dem Argument, man müsse die kulturellen Gefühle verstehen. Das war falsch.

DIE FURCHE: Und in Österreich?

Grigat: Auch hier hat sich der Mainstream lange nicht getraut, islamistischen Antisemitismus zu kritisieren, aus Angst, der FPÖ zuzuspielen. Die aufgeklärte, humanistische Islamkritik hat sich lange zurückgehalten und so das Feld den rechten Fremdenfeinden überlassen.

DIE FURCHE: Unterscheidet sich der islamistische Antisemismus vom "traditionellen" Antisemitismus? Grigat: Der Unterschied zur christlich geprägten oder rassistischen Judenfeindschaft ist die Legitimationsquelle: Der islamistische Antisemitismus bezieht sich auf religiöse Schriften, lässt sich dadurch aber natürlich nicht erklären. Die islamistischen Strömungen entstanden in den 1920er- und 30er-Jahren. Die Muslimbruderschaft in Ägypten, die für die Entwicklung des Islamismus zentral war und bis heute ist, argumentierte ähnlich wie der Faschismus in Europa: Antisemitismus war eine wahnhaft-projektive Antwort auf die kapitalistische Moderne. Weil sie Aspekte der als "jüdisch" identifizierten Moderne als Bedrohung empfanden, bekämpften sie Juden.

DIE FURCHE: Parallel zur Abwanderung zieht es junge Israelis nach Europa. Wie passt das zusammen?

Grigat: Neben der normalen Auswanderung von jungen Leuten, die Berlin als Partymetropole schätzen, gibt es eine kleine Gruppe antizionistischer Linker. In Berlin gibt es eine Community von jungen Israelis, die kritisch gegen Israels Regierung und den Zionismus insgesamt ist. Diese Gruppe sieht aus einer politischen Naivität die antisemitische Bedrohung kaum noch. Doch viele erleben dann in Deutschland doch Antisemitismus. In Berlin gibt es Gegenden, wo man besser nicht mit Kippa und Davidstern auf die Straße geht. Da merken dann auch linke Antizionisten, dass etwas nicht stimmt.

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