Frankreich debattiert über seine Identität

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Was bedeutet es, Franzose zu sein? Wer ist Franzose? Wie definiert man Frankreich und in welche Richtung soll es sich entwickeln? Diese und viele andere Fragen zur nationalen Identität werden derzeit in Frankreich intensiv diskutiert.

In allen Departments des Landes finden derzeit Diskussionsveranstaltungen zur nationalen Identität Frankreichs satt. Im November vorigen Jahres hat Eric Besson, Minister für Immigration, Integration und nationale Identität in der französischen Regierung, diese umfassende Debatte über die nationale Identität eröffnet. Ende Februar sollen erste Ergebnisse aus den Diskussionen vorliegen. Eine eigene Internetseite wurde gestaltet, um weiten Kreisen der Bevölkerung die Möglichkeit der Partizipation zu geben.

In Frankreich geht die nationale Identität mit den republikanischen Werten des Landes Hand in Hand. Im französischen Modell wird die Nation von Menschen geschaffen, die gleiche oder ähnliche politische Werte vertreten und die bereit sind, gemeinsam eine Nation zu bilden. Der Staat verspricht dem Individuum Integration, dieses wiederum verpflichtet sich zur Respektierung der Werte der Republik. Abweichungen haben in diesem zentralistischen System keinen Platz. Die Bildung religiöser, sozialer oder regionaler Gruppierungen innerhalb des Staates ist unter dem Schlagwort „communautarisme“ verpönt.

In den vergangenen Jahrzehnten sind die Grundlagen dieser nationalen Identität erodiert. Die europäische Integration, die Globalisierung, die Einwanderung und das Entstehen eines gewissen Regionalismus haben dazu geführt, dass die sorgsam bewachte Einheit der Nation gefährdet erscheint. Um auf diese Entwicklungen zu reagieren, hat die französische Regierung die Debatte über die nationale Identität des Landes lanciert.

Sehr gutes Wahlkampfthema

Dieses Vorhaben hat zu heftigen Diskussionen unter den politischen Parteien des Landes geführt. Während die regierenden Konservativen davon sprechen, dass die Ängste und Sorgen der Bevölkerung von der Politik ernst genommen werden müssen, reagierte die Opposition gespalten: Die frühere sozialistische Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal hält die Debatte für legitim, der Rest der Sozialistischen Partei hat sich jedoch vehement dagegen ausgesprochen. Kritiker sehen in der Debatte vor allem die Gefahr, dass es dadurch zu einer weiteren Radikalisierung des nicht immer konfliktfreien Verhältnisses zwischen Franzosen und Einwanderern kommen könnte. Außerdem wird der regierenden UMP vorgeworfen, dass sie auf diese Weise Wahlkampf für die im März 2010 stattfindenden Regionalwahlen betreibt und damit den rechtsextremen Parteien Stimmen abjagen möchte.

Nicht nur innerfranzösische Argumente werden in der Debatte verwendet. Das Nein der Schweizer bei der Minarette-Volksabstimmung hat zu einer Zuspitzung der Diskussion in Frankreich geführt. Nun ist nicht mehr Immigration im Allgemeinen die dominierende Frage, sondern wie das Verhältnis des laizistischen Landes zum Islam gestaltet werden soll.

Umfragen ergaben, dass eine Abstimmung über Minarette in Frankreich ähnlich wie in der Schweiz ausfallen könnte. Zur Eskalierung trug auch ein der regierenden UMP angehörender Bürgermeister eines Provinzstädtchens bei, der die Notwendigkeit der Debatte vor laufender Kamera mit den Worten begründete: „Es ist Zeit, dass man reagiert, sonst werden wir gefressen. Es gibt schon zehn Millionen, zehn Millionen, die man fürs Nichtstun bezahlt.“ Spätestens zu diesem Zeitpunkt drohte die Diskussion in ein rechtes Fahrwasser abzugleiten, die öffentlich zugängliche Internetseite der Debatte musste von rechtsradikalen Beiträgen gesäubert werden.

Staatspräsident Nicolas Sarkozy reagierte mit einem Zeitungskommentar auf diese bedenkliche Entwicklung. Von der Schweizer Abstimmung ausgehend kritisierte er die Überheblichkeit vieler Politiker und Intellektueller in Fragen der Integration und warnte, die Ängste der Bevölkerung zu negieren. Der Verlust der nationalen Identität kann zu einer Ursache „großen Leidens“ werden. Wohl müssen jene, die neu ins Land kommen, respektiert werden, sie müssen im Gegenzug aber die Werte, Überzeugungen, Gesetze und Traditionen des Empfangslandes respektieren und diese – zumindest teilweise – zu den ihren machen.

Sarkozy versprach in diesem Kommentar den in Frankreich lebenden Muslimen, alles zu tun, damit sie sich als Bürger wie alle anderen auch fühlen könnten. Zugleich betonte er aber das christliche Erbe und die republikanischen Werte des Landes und warnte davor, dass deren Missachtung das Entstehen eines in Frankreich integrierten Islams verhindern werde. Im letzten Absatz seines Beitrages empfiehlt Sarkozy den Angehörigen aller Religionen, ihren Glauben nicht zur Schau zu stellen und jede Provokation zu vermeiden. Vielmehr sollte jeder seine Religion in „bescheidener Diskretion“ ausüben und dadurch seinen „brüderlichen Respekt“ vor allen jenen zum Ausdruck bringen, die diesen Glauben nicht teilen.

Der Versuch Sarkozys, mit seinem Beitrag die Debatte zu beruhigen scheiterte, denn knapp danach folgte die nächste Aufregung. Nadine Morano, Staatssekretärin für Familienfragen, forderte in einer Rede von den in Frankreich lebenden jungen Muslimen, sich als Franzosen zu fühlen und Frankreich zu lieben. Zudem sollten sie sich eine Arbeit suchen, ordentlich Französisch sprechen und ihre Kappen nicht verkehrt aufsetzen. Vertreter muslimischer Verbände beklagten daraufhin die Stigmatisierung junger Muslime durch Regierungsmitglieder und Parlamentarier forderten ein Ende der Debatte um die nationale Identität, damit die Polarisierung der Bevölkerung nicht noch weiter betrieben werde.

Nächstes Streitthema: Burkaverbot

Morano rechtfertigte sich damit, dass ihre Aussagen aus dem Zusammenhang gerissen wurden. Ihre Intention war nicht die Kritik an jungen Muslimen, sie wollte ihnen vielmehr einen Weg zeigen, wie sie klischeehaften Darstellungen entgegenwirken könnten. Doch die nächste Entscheidung in der sensiblen Frage des Umgangs mit der muslimischen Minderheit steht schon wieder an: Demnächst wird entschieden, ob das Tragen der Burka in Frankreich gesetzlich verboten werden soll. Wer sich an die 2004 geführte Diskussion über das Kopftuchverbot erinnert, weiß, dass die Frage religiöser Symbole in der Öffentlichkeit für heftige Debatten sorgt.

Trotz all der Probleme und Querelen, die im Zusammenhang mit der Debatte über die nationale Identität aufgetreten sind, ist es doch ein interessantes Experiment, das auch der republikanischen Tradition des Landes entspricht. Wer heute in Europa offenen Auges durch die Straßen geht, wird sehen, dass überlieferte Definitionen des Begriffes Nation nicht mehr greifen. Frankreich ist gerade dabei, sich als erstes Land des Kontinents mit dieser Frage auseinanderzusetzen und neue Positionierungen zu suchen. Das Ergebnis der Debatte ist noch offen, ihre Notwendigkeit – auch in anderen Ländern – steht aber außer Streit.

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