Die Erfindung Europas

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Zur Habermas-Derrida-Debatte über eine europäische Identität.

Unter dem Titel Unsere Erneuerung hat Jürgen Habermas im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 31. Mai d.J. ein Bekenntnis zur europäischen Identität publiziert, mitunterzeichnet von Jacques Derrida. Äußerer Anlass war der amerikanische Irak-Feldzug, den gut zu heißen sich Deutschland und Frankreich weigerten, worauf die USA das "alte Europa" illoyal nannten. Im Gegenzug entwickelt Habermas Gedanken zu einer Identität des neuen Europa, und zwar unter der Annahme, dass einstweilen nur die kerneuropäischen Mitgliedstaaten bereit seien, der EU "gewisse staatliche Qualitäten zu verleihen".

Erstens: Die europäische Identität sei nichts historisch Feststehendes. Sie müsse "erfunden" werden. Zweitens: Es sei erwartbar, dass die Inhalte, auf die man sich einigen werde, die "geistige Kontur des Westens" zeigten. Diese Kontur umfasse freilich mehr als Europa: "Weil sich Christentum und Kapitalismus, Naturwissenschaft und Technik, römisches Recht und Code Napoléon, die bürgerlich urbane Lebensform, Demokratie und Menschenrechte, die Säkularisierung von Staat und Gesellschaft über andere Kontinente ausgebreitet haben, bilden diese Errungenschaften kein proprium mehr." Drittens: Bei der Ausformulierung der europäischen Identität sollten die kerneuropäischen Länder eine Sogwirkung auf die randständigen Mitglieder der Eurozone entfalten.

Kulturimperialist oder ...

Ist also, wie seither oft gefragt wurde, Habermas - mit Derrida im Schlepptau - ein Kulturimperialist? Geht es in Wahrheit um die Führungsrolle Deutschlands und Frankreichs? Die Antwort lautet nein. Denn insofern Habermas vor dem Hintergrund seiner philosophischen Überzeugungen spricht, muss die Wiedergeburt Europas zwanglos geschehen. Unbeschadet der "weichen Macht von Verhandlungsagenden, Beziehungen und ökonomischen Vorteilen", müssen am Schluss alle EU-Mitglieder einer europäischen Verfassung zustimmen können, weil alle in der Staatswerdung Europas ihre Interessen bestmöglich vertreten sehen.

Um Habermas als Kulturimperialisten zu entlarven, wäre es notwendig, ihm eine zynische Verwendung des Wortes "Sogwirkung" nachzuweisen. Demzufolge bliebe den schwachen EU-Staaten gar nichts übrig, als sich dem Diktat der Stärke, die als geistige Kontur des Westens daherkommt, zu unterwerfen. Demgegenüber setzt Habermas auf die Einsicht, dass die westlich-liberale Demokratie, verglichen mit den bekannten Alternativen, ein Optimum an Machtkontrolle, individueller Freiheit, langfristiger Friedens- und Wohlstandssicherung bietet. Sie ist daher, ethisch gesprochen, verallgemeinerbar, zumal sie - auch das wird von Habermas ausdrücklich betont - die besten Chancen für interkulturelle Toleranz bereithält, d.h. für die "gegenseitige Anerkennung des anderen in seiner Andersheit".

... blauäugiger Idealist?

Das eigentliche Problem der idealisierenden Sichtweise des Philosophen wird indessen spürbar, sobald man liest, wer die geistige Kontur des Westens mitträgt und worin die spezifische Differenz Europas letzten Endes besteht. Ebenso wie in Europa findet man in den "Vereinigten Staaten, Kanada und Australien" eine charakteristische Mischung aus Individualismus, Rationalismus und Aktivismus. Daneben freilich gibt es laut Habermas europäische Besonderheiten, die sich dem historischen Gedächtnis verdanken und einer Amerikanisierung Europas vorbeugen.

Die Europäer sind keine typischen Libertarians; sie erwarten sich vom Staat, dass er Strukturschwächen des Marktes korrigiert. Außerdem verhalten sich die Europäer sensibel zu den Kosten des Fortschritts und zum Auftreten krasser sozialer Ungleichheiten. Die Europäer haben im Namen der Menschenrechte den Verzicht auf die Todesstrafe zu einer EU-Eintrittsbedingung gemacht. Ferner haben sie die Privatisierung des Religiösen bis zu einem Punkt vorangetrieben, wo ein Präsident, der seine Kriegshändel als göttliche Mission ausstellt, schwer vorstellbar ist. Vor allem aber räumen die Europäer einer friedlichen Bereinigung zwischenstaatlicher Konflikte durch Vermittlung supranationaler Organisationen strikte Priorität ein.

Nun das Problem: Sind die erwähnten Charakteristika hinreichend, um darauf eine europäische Identität zu gründen? Das ist eher unwahrscheinlich. Der Grund dafür liegt in der unterschiedlichen identitätsstiftenden Relevanz, welche die von Habermas markierten Differenzen zwischen der amerikanischen und europäischen Mentalität haben. In einem bestimmten Sinne sind Amerikaner und Europäer natürlich sehr verschieden; aber in einem bestimmten Sinne sind auch verschiedene europäische Kulturen sehr verschieden. Sieht man davon einmal ab, ohne genau zu wissen, wovon man eigentlich absieht - kulturelle Physiognomien entziehen sich der Definition -, dann sind öffentlich betende Präsidenten ebenso wenig tauglich zur abgrenzenden Bestimmung einer europäischen Identität wie das seltsame Faible der Amerikaner für die Todesstrafe. Denn hinter beiden Eigenheiten steckt keine ernsthafte Differenz auf der Ebene der sozialen oder ethischen Prinzipien. In den USA ist die Trennung von Religion und Staat viel radikaler vollzogen als, sagen wir, im katholischen Österreich, und was das Wort "Menschenrechte" bedeutet, das werden wir den Amerikanern nicht erst zu erklären brauchen.

Liberalistischer Zeitgeist

Wesentlich tiefer reichen die weiteren von Habermas genannten Differenzen, sobald wir unsere eigene Tradition ins Auge fassen: Kapitalismuskritik, Ausgleich sozialer Ungerechtigkeiten und Sozialstaatsgedanke sind etwas typisch Europäisches - genauer: sie sind es gewesen. Und das ist auch der Punkt, auf den es hier ankommt. Da aufgrund der Globalisierung gerade das wirtschaftsstarke Kerneuropa vom Turbokapitalismus erfasst wurde, sind wir im Bereich der ökonomischen Basisdynamik, an der das Schicksal unserer Zivilisation hängt, kaum mehr imstande, der Amerikanisierung einen eigenständigen Weg entgegenzustellen. Noch zehren wir von unseren sozialstaatlichen Traditionen, aber die Regierungen, die immer häufiger liberalistisch denken - nicht zuletzt die Regierung, die zur Zeit Österreich umbaut -, liegen auf Konfrontationskurs mit den Hütern des "Versorgungsstaates". Angesichts der rasch ansteigenden Finanznöte der öffentlichen Hand scheint es keinen Ausweg zu geben. Der Rest ist ökosoziale Rhetorik.

Was bleibt, ist der außenpolitische Friedenswille, den Habermas dem neuen Europa als Identitätsmerkmal zusinnt. Was bedeutet das im Gegensatz zur militärischen Offensivhaltung der USA? Nüchtern gesprochen hat es bedeutet, dass Europa von sich aus unfähig war, den drohenden Völkermord im Kosovo zu verhindern, geschweige denn, dass es dem Schrecken des Taliban-Regimes oder der Diktatur Saddam Husseins etwas entgegensetzen konnte, außer Phrasen der Empörung und "humanitäre Hilfe" für die Opfer. Wenn Europa glaubhaft Profil gewinnen möchte, dann muss es bereit sein, den Tyrannen und Menschenschlächtern Einhalt zu gebieten, zumindest in den eigenen geopolitischen Nahräumen. Das setzt voraus, dass man auch militärisch Stellung bezieht. Es lässt sich vermuten, dass ein derartiger Schritt in enger Kooperation mit den USA und ihren Verbündeten getan wird oder gar nicht.

Zukunftsblind sein

Fazit: Europas Identität der Zukunft wird eine Überlebensidentität auf einem globalen Markt mit wenigen niveaugleichen Mit- und Gegenspielern sein. Eine solche Identität ist schwach, da sie kein nationales Fundament hat. Um sie zu sichern, muss unter hohem ökonomischem Leistungsdruck, der alle nicht kapitalisierbaren Traditionswiderstände wegschmilzt, Außenpolitik betrieben werden. Es scheint zweifelhaft, ob das in einer Welt der waffenstarrenden Machtblöcke und des Terrors dauerhaft möglich ist, falls Europa nicht auch militärisch zur Großmacht heranwächst. Werden wir also, über alle Brüche hinweg, Amerika entgegenwachsen, freilich ohne jenen Patriotismus, der die USA so traumwandlerisch eint?

Vielleicht ist es gut, dass wir zukunftsblind sind. Das mag, trotz vieler Wenn und Aber, den Raum offen halten für die Erfindung Europas, die keine wäre, hätten wir sie schon gemacht.

Der Autor ist Professor für Rechtsphilosophie an der Universität Graz.

Zum Thema

Zur von Jürgen Habermas und Jacques Derrida angezündeten Debatte über eine neue europäische Identität äußerten sich bislang in der Furche der Salzburger katholische Philosoph Clemens Sedmak (Nr. 25, 19. Juni) und der emeritierte Zweite Nationalratspräsident Heinrich Neisser (Nr. 28, 10. Juli).

Sedmak argumentierte, Europa solle sich auf seine "alten Werte" besinnen und sich als "Experte in Sachen Menschlichkeit" profilieren.

Neisser forderte, dass sich Europa nicht eine Kartegorisierung in "Verbündete" und "Nicht-Verbündete" der USA aufzwingen lassen dürfe: Ein gestärktes vereintes Europa wäre "nicht nur eine Schranke gegen den amerikanischen Unilateralismus, es könnte die USA vielmehr zu multilateralem Denken und zu multilateralen Einstellungen zwingen und zurückführen."

Die Furche plant weitere Beiträge zu dieser Debatte . ofri

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