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Wieder Schulkampf?

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Der konservativ-reaktionäre sozialistische Flügel SFIO (Section frangaise de l'internationale ouv-riere) errang in der Nationalratssitzung am 19. Juli in Clichy einen bedeutungsvollen Sieg. Die Fassung der Schlußverlautbarung des Generalsekretärs Guy Mollet erhielt 2028 Simmen, während der bisherige Präsidentschaftskandidat Gaston Defferre nur 881 Delegiertenstimmen erhalten konnte. Mollets Motto „Zurück zu 1905“, dessen tiefere Bedeutung den Jungen und auch manchen Älteren Frankreichs kaum etwas sagt, hat eine doppelte Bedeutung: Es war das Jahr, in dem sich die drei autonomen Gruppen „Parti socialiste frangais“ (unter Jaures, Briand und Viinani), „Parti socialiste de France“ (unter Guesde und Vail-lant) und „Parti socialiste ouvrier frangais“ (unter Allemane) zur

SFIO, der heutigen Sozialistischen Partei, vereinigten.

Reminisxenzen an 1905

Wenn Mollet an das Jahr 1905 erinnert und ihm eine symbolhafte Bedeutung gibt, so schwebt ihm als Generationsziel die Rückführung der abgespaltenen Parti Socialiste Uni-fie (PSU) in die alte sozialistische Familie vor. Außerdem hofft er auf den Zustrom abtrünniger radikalsozialistischer politischer Klubs und mancher Einzelgänger zur Sozialistischen Partei.

Aber 1905 brachte nicht allein die sozialistische Einheit, sondern ist auch als das Jahr der Trennung von

Kirche und Staat nach einer unerfreulichen Periode von Kulturkämpfen in die Geschichte Frankreichs eingegangen. In seinem Hauptreferat wies Mollet bei der Nationalratstagung auf die jüngste Veröffentlichung des „Express“ hin, der die Tatsache von Geheimverhandlungen zwischen der 1956 von ihm geführten Regierung und dem Vatikan enthüllt hatte. Sobald eine Linksregierung wieder zur Macht kommen würde — sagte der ehemalige Ministerpräsident —, müßte sie versuchen, den gegenwärtigen Zustand der Beziehungen zwischen dem Staat und der Kirche zu beenden. Ein Regierungschef habe die Pflicht, die Änderung gewisser Dinge zu fordern. Es gehe um ein Problem, das zwischen den beiden Regierungen behandelt werden müsse. Wenn jedoch am Tage der Wiederaufnahmen der Verhandlungen der eine oder der andere Partner sich einer lügnerischen Publizität bezüglich der früheren Verhandlungen gegenübergestellt sehe, würden sich die neuen Kontakte als schwierig erweisen.

Wie sollen derartige Andeutungen verstanden werden? Sie lassen sich auf keinen Fall als hoffnungsvolle Perspektive für eine Verbesserung der Beziehungen zwischen Kirche und Staat erklären, sondern sind vielmehr als Symptom der Verhärtung der SFIO gegenüber der Kirche zu werten. Dies geht eindeutig aus der Schlußverlautbarung der SFIO über das Scheitern der Verhandlungen Gaston Defferres mit den Volksrepublikanern (MRP) über den Plan einer gemeinsamen Kandidatur bei den Staatspräsidentenwahlen im Dezember hervor. Darin heißt es von der MRP, daß sie jeden Hinweis auf die Lösung des Problems der Laizi-tät im Schulwesen durch „Zubilligung staatlicher Fonds für die öffentlichen Schulen“ und durch „Integration der privaten Lehrer und Schulen, die staatliche Fonds erhalten, in das nationale Erziehungswesen“.

Fast gleichzeitig mit dem SFIO-Nationalrat trat der Kongreß des Nationalsyndikats der Lehrer, SNI, zusammen. Hier bezeichnete der Generalsekretär der SNI, Pierre Des-valois, die laizistische Schule als den „Eckstein der Republik“. Und der Kongreß blieb von Anfang bis zum Ende von dieser Frage beherrscht Die katholische Zeitschrift „Timoignage Chr6tien“ nannte die Haltung dieser „Kampflaizisten“ gegenüber Katholiken „aggressiv“ und zuweilen „haßerfüllt“. Sie hätten die kirchlichen Entwicklungen und die Lehren Johannes' XXIII. als Fallstricke bezeichnet, geeignet, die „Naiven“ besser zu fangen. Einen Dialog über die Laizität hatten sie rundweg abgelehnt.

In dieser Perspektive wird der Mißerfolg Defferres als Sieg gewertet. Der dem linksgewerkschaftlichen Lager nahestehende Exponent des SNI, A. Sorel, sagte: „In der Nacht vom 17. zum 18. Juni erfuhr ein Teil des Bürgertums eine Niederlage und nicht die Linke.“

Aggressive Leserbriefe

Recht symptomatisch sind schließlich einige Leserbriefe, die „Le Monde“ vor kurzem veröffentlichte und die sich zum Teil mit aggressiver Entschiedenheit für die Laizität einsetzen. Die ungewöhnliche Breite, die das Blatt den kritischen und oft einseitig antikirchlichen Auslassungen einräumt, läßt den Rückschluß zu, daß man erneut eine Debatte über die konfessionelle Schule — nach vielen Jahren der Ruhe — in der französischen Öffentlichkeit als aufgenommen ansieht. Wir glauben, daß die Zielrichtung der Polemik und die Argumentation ihrer Träger für die Leser der „Furche“ von Interesse sein werden. So sieht der Präsident der Elternbeiratsvereinigungen der öffentlichen Schulen, Rechtsanwalt Jean Cornec, in der Laizität nicht einen Mythos, sondern eine „sehr konkrete, sehr lebendige und sehr junge Realität“, die auch jenseits der Grenzen Frankreichs ihre Gültigkeit habe. Der Laizismus sei die einzig mögliche Grundlage eines wirklichen Ökumenismus. Der Verfasser beendet seine temperamentvollen Ausführungen mit einer Reihe rhetorischer Fragen: „Ja oder nein — hat die katholische Doktrin im Bereich des Erziehungswesens eine Änderung erfahren? Ja oder nein — verkündet sie, daß der Besuch nichtkatholischer Schulen katholischen Kindern verboten werden sollte? Ja oder nein — ist die laizistische Schule nach wie vor die Schule des Teufels?“ Am Ende des Konzils laute die Antwort „Ja“.

In einem weiteren Leserbrief schreibt der Studienrat Gaston Cler-geot aus Besangon, daß das Problem der Laizität vor dem zweiten Weltkrieg durch einen Modus vivendi, das von den Priestern als demokratische Lösung akzeptiert worden sei, gelöst schien. Doch sei das Schulregime bereits während des Krieges durch die Vichy-Begierung in Frage gestellt worden. Traditionellerweise sei die Laizität gleichbedeutend mit Antiklerikalismus, der niemals bestehen würde, wenn sich die Priester auf das spirituelle Gebiet beschränkt hätten. Der Verfasser fordert, daß der laizistische Aspekt auf die Gesamtheit des privaten Sektors ausgedehnt werde, da die Regierung mit allen Mitteln das private Schulwesen auf Kosten des öffentlichen, für das sie verantwortlich sei, zu begünstigen suche. Als Beispiel werden die bis zu 25 Prozent gehenden Subventionskredite mit geringer Verzinsung erwähnt, die der Staat den Unternehmern für Lehrlingsausbildungsstätten zur Verfügung stelle. Weiterhin behaupte Jean Cornec, daß in einem Kanton der Region Haut-Doubs ein Druck auf die Gemeindemitglieder ausgeübt werde, damit sie ihre Kinder in die neugeschaffene konfessionelle Schule schicken, während die öffentliche Schule — auch für nichtkatholische Kinder — von der Schließung bedroht sei.

Ein zwielichtiger Anwalt

Ein anderer Vertreter des Lehrfachs, der Agrege d'histoire J. Pinard aus Besangon, schwingt sich gar zum Verteidiger spiritueller Kirchenbelange auf, indem er von seinem Wirkungsgebiet behauptet, daß sich dort sowohl Laien als auch Geistliche über den Bau luxuriöser privater Schulen entrüsteten, während neuerbaute Stadtviertel keine Kirchen hätten und die Priester sich mit „jämmerlichen Bezügen“ zufriedengeben müßten. Man wundere sich überall darüber, daß katholische Geistliche Mathematik und Physik unterrichteten, während in anderen

Gebieten über Priestermangel geklagt werde.

Man trägt wieder „antiklerikal“?

Es würde zu weit führen, wollte man sich mit allen diesen Argumenten im einzelnen auseinandersetzen. Wesentlich scheint uns, daß der eindeutig „antiklerikale“ Charakter des kämpferischen Laizismus nicht geleugnet wird. Weiterhin kann nicht In Abrede gestellt werden, daß der Grundsatz der „ideologischen Neutät“ am wenigsten von den Mitgliedern des Nationalen Lehrersyndikats SNJ, die sich untereinander oft mit „Genosse“ anzureden pflegen, respektiert wird. Es ist eine akademische Frage, wer wen zu Reaktionsverhandlungen provoziert, und es wäre lächerlich, zu behaupten, daß die bewußten Marxisten unter den Lehrern der Dörfer und Kantone Frankreichs aus ihrem ideologischen Herzen eine Mördergrube machten.

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