Kolonien und Kannibalen

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Die brennenden Autos der französischen Banlieues sind nicht nur Folge sozial-politischer Fehlentwicklungen: In ihnen flackert die (verdrängte) Kolonialgeschichte Frankreichs auf.

Das Verhältnis der französischen Gesellschaft zum Anderen ist kannibalisch: Der Andere kann nur existieren, wenn ich ihn mir einverleibe. Wenn ich ihn nicht essen kann, dann macht er mir Angst", formulierte der französische Soziologe Saïd Bouamama bei einem Vortrag im Sommer 2003 provokant seine Theorie, dass die Integrationspolitik der französischen Gesellschaft den gleichen Mustern folge wie zu Zeiten der Kolonien. "Man möchte meinen, der Kolonialismus sei längst passé, aber es handelt sich um ein Thema mit brennender Aktualität, denn in Frankreich verharren wir in unserem Verhältnis dem Anderen gegenüber in einem kolonialistischen Verhältnis der Reproduktion von Dominanz." Wie brennend aktuell diese Äußerung Bouamamas tatsächlich ist, wird deutlich, wenn man die anhaltenden Unruhen in den französischen Trabantenstädten im Licht des kolonialen Erbes der früheren "Grande Nation" betrachtet.

Pflichten ohne Rechte

Das Verhältnis zum Anderen, im gegebenen Fall zu den Jugendlichen meist nordafrikanischer Abstammung, ist in verschiedener Hinsicht durch die aus der Kolonialzeit übernommenen Muster geprägt. Integration, bekräftigt Bouamama seine Theorie, bedeute für die indigene Bevölkerung in den Kolonien respektive für die Nachkommen der Immigranten in Frankreich zwar, die gleichen Pflichten wie die angestammten Franzosen erfüllen zu müssen, nicht aber die gleichen Rechte zu genießen. Abgesehen von Diskriminierung und Rassismus, denen die Einwanderer und ihre Nachkommen unbestritten in allen Lebensbereichen begegnen, verwehrt ihnen die Republik auch noch in einem anderen Bereich einen gleichberechtigten Platz.

Geschichte ohne Opfer

So werden sie aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt. "Die Lehrpläne in den Schulen stellen vor allem die positive Rolle der französischen Präsenz auf anderen Kontinenten, insbesondere in Nordafrika, dar und räumen der Geschichte und den Opfern der Kämpfer der französischen Armee in diesen Gebieten den wichtigen Platz ein, der ihnen zusteht": Dieser Auszug ist einem Gesetz entnommen, das nicht etwa aus einer Zeit stammt, als Frankreich noch ein bedeutendes Kolonialreich war, sondern das am 23. Februar 2005 vom französischen Parlament verabschiedet wurde. Als "eine schwere Verletzung der Würde aller kolonisierten Völker sowie von deren in Frankreich lebenden Nachfahren" bezeichnet der Historiker Abdellali Hajjat diese gesetzlich vorgeschriebene Geschichtsversion, die die Verbrechen, die an der Bevölkerung der kolonisierten Gebiete begangen worden sind, im Dunkeln lässt.

Die Konstruktion der französischen Nationalität und Identität beruht nicht erst seit gestern auf der Nivellierung der internen Verschiedenheiten: Schon zu Zeiten der französischen Revolution führte die fixe Idee der Jakobiner von der Einheit der Nation zur Bekämpfung der sprachlichen und kulturellen Vielfalt der Regionen. Auch die Aberkennung einer eigenen Geschichte und Kultur der indigenen Bevölkerung der kolonialisierten Gebiete ist keineswegs eine neue Strategie: Die indigenen Kinder, soweit sie überhaupt die Schule besuchen konnten, lernten im Geschichtsunterricht über "unsere gallischen Vorfahren". Die Geschichte der besetzten Gebiete wurde schlichtweg ignoriert. Diese Haltung erklärt sich aus einer vermeintlich zivilisatorischen Aufgabe, die auf der Annahme fußte, diese unzivilisierten Völker seien überhaupt nicht im Besitz einer eigenen Geschichte.

Nach der Unabhängigkeit der kolonisierten Länder verwandelte sich die Verneinung der Geschichte der indigenen Bevölkerung zu einer Bagatellisierung des konfliktreichen kolonialen Erbes, die sich besonders markant am Beispiel des Algerienkrieges (1954- 1962) manifestiert. Bis Ende der 1990er Jahre schien der Algerienkrieg völlig aus dem kollektiven Bewusstsein verdrängt worden zu sein. Die Bezeichnung "Krieg" wurde erstmals 1999 (!) in einem Gesetzestext verwendet; zuvor war stets von "Befriedung", "Ereignissen" und der "Aufrechterhaltung der Ordnung" die Rede gewesen. Das Ausmaß dieser Verdrängung führt der Historiker Benjamin Stora auf ein staatlich organisiertes Vergessen zurück: Für alle in Algerien verübten Taten trat eine Reihe von Amnestien in Kraft, die zum einen die Anerkennung der Verantwortung, vor allem aber auch eine Verurteilung der Kriegsverbrechen verhindert hat. Die letzte dieser Amnestien wurde 1982 - zwanzig Jahre nach Kriegsende - erlassen.

Franzosen ohne Identität

Die Folgen einer solchen symbolischen Ausgrenzung für die Sozialpsychologie lassen sich nicht in einer einfachen Gleichung darstellen. Sicher ist aber, dass die seit den 80er Jahren immer bedeutender werdende Gruppe der von Immigranten aus den ehemaligen Kolonien abstammenden Franzosen bei der Suche nach ihrer Identität sowie den Gründen für ihre gegenwärtige Existenz als Ausgeschlossene und Stigmatisierte unweigerlich auf die koloniale Vergangenheit stößt. Und diese Vergangenheit ist noch längst nicht Geschichte: Sie ist in der Erinnerung der Eltern und Großeltern noch äußerst lebendig.

Vor allem zwei Ereignisse, denen durch ihr traumatisches Ausmaß und unbestreitbare Aktualität im kollektiven Bewusstsein ein besonderer Stellenwert zukommt, lassen erahnen, welche Bedeutung die verdrängte Geschichte für die Nachkommen der Immigranten hat: die Massaker vom 17. Oktober 1961 und vom 8. Mai 1945.

Am 17. Oktober 1961 kam es in Paris zu einem bis heute unzureichend aufgearbeiteten Blutbad. Die algerische Unabhängigkeitsbewegung fln (Front de la Libération Nationale) rief ihre Anhänger sowie die algerischen Gastarbeiter zusammen mit ihren Frauen und Kindern zu einer friedlichen und vor allem unbewaffneten Demonstration auf. Protestiert werden sollte gegen die ausschließlich für "muslimische Franzosen aus Algerien" geltende Ausgangssperre im Rahmen des Notstandsgesetzes. (Man beachte die Religionsbezeichnung, die auch auf dem Personalausweis der laizistischen Republik stand.)

Die vom Pariser Polizei-Präfekten Maurice Papon angeordnete brutale Unterdrückung hat Schätzungen zufolge über 200 Algerier das Leben gekostet. Sie wurden von den Polizisten, denen Papon Deckung versprochen hatte, erschlagen, erschossen oder einfach in die Seine geworfen. Weitere 1700 wurden interniert, unzählige gelten seit diesem Tag als vermisst. Verlässliche Zahlen stehen nicht zur Verfügung, da bis heute noch nicht alle Polizeiarchive zugänglich gemacht worden sind. Jahrelang trug die staatliche Zensur dazu bei, das Massaker zu vertuschen - publizierte Bücher wurden verboten, ein Film konfisziert.

Die Erinnerung an dieses Massaker und vor allem an eine Zeit der brutalen Repression, der Demütigung und der Folter wurde dieser Tage durch das neuerliche Inkrafttreten des Notstandsgesetzes, das aus dem Jahr 1955 stammt und speziell für den Algerienkrieg geschaffen wurde, wieder wachgerufen.

Republik mit Widersprüchen

Noch weiter zurückliegend, aber nicht weniger symbolträchtig, ist das Massaker von Sétif, das vor allem im diesjährigen allgemeinen Jubiläums- und Gedenkrummel die inneren Widersprüche Frankreichs ans Tageslicht bringt. Just am 8. Mai 1945, dem Tag der Befreiung vom nationalsozialistischen Regime, kam es in Sétif und einigen anderen Städten Algeriens nach Demonstrationen für mehr Rechte und Gleichberechtigung zu einem Massaker, bei dem bis zu zehntausend Algerier von Polizei und Militär ermordet wurden. Das gemeinsame Datum der beiden Ereignisse symbolisiert ungewollt - dafür aber darum umso stärker - den Widerspruch zwischen dem republikanischen und dem kolonialen Diskurs Frankreichs, der in leicht abgewandelter Form bis heute weiterbesteht.

Hinter dem über Jahrhunderte konstruierten Geschichts- und Selbstbild Frankreichs, dessen "kannibalische Logik" laut Bouamama keinerlei Pluralität duldet, zeichnet sich eine innere Zerrissenheit ab. Sich dieser Zerrissenheit und somit den eigentlichen Gründen für die aktuellen Konflikte zu stellen, hieße für Frankreich allerdings auch, sein Selbstbild als Land der Aufklärung, der Menschenrechte und der Revolution - mithin die Prinzipien der Republik - gefährlich ins Wanken zu bringen.

Mit dem Massaker von 1961 befasst sich auch Michael Hanekes neuer Film "Caché" (siehe Seite 16).

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