"Nicht alle politischen Probleme sind lösbar"

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Demokratieforscher Wolfgang Merkel im Gespräch über die Probleme traditioneller Volksparteien und die Systematik politischer Diskurse.

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Demokratieforscher Wolfgang Merkel im Gespräch über die Probleme traditioneller Volksparteien und die Systematik politischer Diskurse.

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Der deutsche Politikwissenschafter Wolfgang Merkel war Vortragender bei einer Konferenz zum Gedenkjahr 2018 letzte Woche auf Schloss Eckartsau. Er warnte vor illusorischen Vorstellungen von Demokratie, diese sei ein "immerwährender Anpassungsprozess".

Die Furche: Sie sprechen über Herausforderungen für die Demokratie im 21. Jahrhundert. Was sind die größten?

Wolfgang Merkel: Ich nenne vier Herausforderungen, welche die entwickelten Demokratien noch nicht bewältigt haben und vielleicht auch nie bewältigen werden. Die erste ist die Globalisierung: Sie entmachtet demokratische Nationalstaaten. Die zweite ist die sozioökonomische Ungleichheit: Sie unterwandert das Gleichheitsprinzip der Demokratie. Die dritte ist die ethnisch-religiöse Heterogenität: Sie erschwert die Integration. Die vierte ist ein Machtverlust: ein Ansehensverlust der repräsentativen Institutionen wie Parlamente und Parteien.

Die Furche: Welche Gründe gibt es für diese Herausforderungen?

Merkel: Demokratien in den entwickelten Gesellschaften können nicht die Interessen aller Schichten, Gruppen, politischen sowie religiösen Glaubensrichtungen im gleichen Maße vertreten. Meine Kritik an den gegenwärtigen Demokratien ist, dass sie in den letzten drei Jahrzehnten nicht in der Lage waren, die soziale und ökonomische Ungleichheit zu stoppen. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Globalisierung. Rechtspopulisten propagieren, man könne alles in das stählerne Gehäuse der nationalen Demokratie zurückholen. Aber das ist eine Illusion.

Die Furche: Welche Auswirkungen haben diese Punkte auf etablierte Parteien?

Merkel: Die Parteien werden daran nicht scheitern. Aber ebenso wenig werden sie diese Probleme so lösen können, dass alle Bürger zufrieden sind. Es werden immer Spannungen in der Demokratie bestehen. Es handelt sich um einen immerwährenden Anpassungsprozess. Man muss sich von dem Gedanken verabschieden, dass alle politischen Probleme zu lösen sind.

Die Furche: Was verstehen Sie unter dem "radikalen Strategiewechsel", den Sie von den klassischen Parteien fordern?

Merkel: Volksparteien werden als solche im 21. Jahrhundert nicht überleben. Sie sind Dinosaurier in einer sich ständig individualisierenden Gesellschaft. Es ist falsch zu glauben, man müsse nur die richtigen Strategien anwenden, um wie der Phönix aus der Asche aufzusteigen. Es gibt zum Beispiel keine sozialdemokratische Partei mehr, die noch auf über 40 Prozent der Wählerstimmen kommt. Der Prozentanteil der Sozialdemokraten ist einstellig geworden. In Österreich kann man bei der SPÖ mit 27 Prozent von einer Insel der Seligen sprechen.

Die Furche: Was wären mögliche Lösungsansätze?

Merkel: Aus strategischer Sicht müssten Sozialdemokraten ökonomisch und sozial stärker nach links rücken und in der Frage der Grenzöffnung für strengere Kontrolle eintreten. Das alles muss von intensiven Integrationsbemühungen begleitet werden. Die ehemalige sozialdemokratische Wählerschaft ist zu Rechtspopulisten gewechselt. Dadurch werden sie aber keinesfalls zu Nicht-Demokraten. Das Ziel ist es, diese Wähler zurückzugewinnen -zudem sie auch als Protestwähler bezeichnet werden können. Nur: Je öfter Protestwähler den Protest wählen, umso mehr übernehmen sie neue Werte. Das ist das Risiko. In Österreich ist das zum Teil schon der Fall. Hier wurde mittlerweile ein Werteblock übernommen.

Die Furche: Weil Sie die Asyl-Thematik anschneiden: Der deutsche Innenminister hat kürzlich die Migrationsdebatte als "Mutter aller Probleme" bezeichnet. Weshalb ist gerade dieses Thema so polarisierend?

Merkel: Ein Problem ist nicht per se ein Problem, Probleme werden häufig auch durch Diskurse konstruiert. In den letzten fünf Jahren betonte der politische Diskurs pausenlos nur noch die Integrations-und Migrationsfragen. Die Rechtspopulisten treiben die anderen Parteien in ihre Diskursagenda. Je öfter dieses Thema diskutiert wird, desto größere Teile der Bevölkerung halten die geschaffenen Fakten für die Realität. Dann - wie etwa die Sozialdemokraten -zu glauben, man müsse das Thema nur in einen neuen Diskurs rahmen -weg vom Migrationsproblem zum sozialen Problem -ist ein sympathischer, aber frommer Glaube. Das funktioniert nicht mehr, wenn solche Diskurs-und Wahrnehmungsstrukturen einmal verhärtet sind.

Die Furche: Sind Migrationsprobleme nicht auch soziale Probleme?

Merkel: Wir müssen ernster nehmen, dass aus der Migration auch soziale Probleme entstehen, die ungleich in der Gesellschaft verteilt sind. Nicht jeder, der sagt, die Grenzen müssten kontrolliert werden, ist ein Nationalist, ein Reaktionär, ein Rechtspopulist. Auch die deutsche Linkspartei entdeckt - im Gegensatz zu den Grünen -diese Frage zunehmend. Die Grünen sind in Deutschland die am besten gebildete Partei, sie würden ihre Kinder nie in Brennpunktschulen schicken, wohnen in anderen Stadtteilen, arbeiten in anderen Segmenten des Arbeitsmarkts. Ich teile in hohem Maße diese kosmopolitischen Werte. Aber die Kosmopoliten müssen auch für die Kosten einstehen. Die Furche: Spielen auch religiöse Werte eine Rolle in Demokratien?

Merkel: Die katholische Kirche hat in bestimmten Regionen eine durchaus die Demokratie fördernde Rolle gespielt: etwa in Lateinamerika oder Polen in den 1970er und 1980er Jahren. Aber an Polen lässt sich die Ambivalenz zeigen: In den 1990er Jahren kam es zu einem Umschwung, und die katholische Kirche versuchte massiv die öffentliche Gesetzgebung zu beeinflussen: Abtreibung, Homosexualität und so weiter. Hier zeigt sich: Dieselbe Kirche kann unterschiedliche Rollen hinsichtlich der Demokratie spielen. Kirchen müssen für ihre Ziele werben dürfen. Aber in dem Moment, wo sie fordernd in die Strukturen des Staates eingreifen, ist es der Demokratie abträglich.

Katja Heine absolviert eine Journalismusausbildung an der Katholischen Medienakademie (KMA). In deren Rahmen wurde von der Konferenz berichtet. Die Reise-und Aufenthaltskosten wurden von den Österreichischen Bundesforsten übernommen.

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