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Gnade oder Rehabilitierung

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Die Geschichte der französischen Nation kennt viele Irrtümer und Fehlgriffe der Justiz. Insbesondere haben Gerichtsurteile in politischen Prozessen oft den Verdacht aufkommen lassen, daß Gesinnungstendenzen, Op-portunitätsfragen, Rücksichten auf die öffentliche Meinung oder Konformismus gegenüber der herrschenden Gewalt die richterliche Entscheidung beeinflußten. Was jedoch diese negativen Erscheinungen im moralischen Bereich wieder aufwiegt, ist das Phänomen, daß in fast restlos allen fragwürdigen und umstrittenen Fällen das Gewissen der Öffentlichkeit mit dem Urteilsspruch nicht zur Ruhe kam. Stets war eine Elite bereit, die wahren Tatbestände zu analysieren, Hintergründe bloßzulegen und dem menschlichen

Paris: als die Leidenschaften tobten

Kriterium — mochten die Dinge noch so kompliziert liegen — die ihm gebührende Beachtung zu schenken. Die Dreyfus-Affäre dürfte der bekannteste Präzedenzfall in dieser Richtung sein.

Strich unter die Rechnung

Heute steht Frankreich erneut vor dem schweren Problem, den letzten Rest des um den Rückzug aus Algerien ausgelösten bürgerkriegsähnlichen ZuStandes zu liquidieren: Es geht um die Frage, ob es sich die Nation leisten kann, durch Freilassung der im Zusammenhang mit der algerischen Tragödie verhafteten und zum größten Teil abgeurteilten politischen Täter einen Schlußstrich unter die Vergangenheit zu ziehen. Die Schwierigkeit des Problems liegt dabei nicht allein in der Tatsache, daß sich in den Gefängnissen und Lagern eine Reihe von Gesinnungstätern befinden, die von massiven und vielfach abscheulichen kriminellen Akten nicht zurückgeschreckt waren. Es ist auch damit zu rechnen, daß viele der erklärten Gegner des bestehenden Regimes und seiner Politik — nach oft wiederholter eigenen Drohungen — nach ihrer Entlassung den Kampf im Sinne der alten OAS-Parolen wieder aufnehmen dürften.

NacK einer Erklärung des Regierungssprechers hat das Kabinett beschlossen, die Frage der Amnestie nicht vor Oktober akut werden zu lassen. Sein Zögern wurde damit begründet, daß ein erheblicher Teil der Inhaftierten noch nicht abgeurteilt sei. Es liegt auf der Hand, daß juristische Argumente nur vorgeschoben wurden, um Zeit zu gewinnen. Die Kritiker der Aufschiebung machen geltend, daß Waldeck-Rousseau die parlamentarische Abstimmung über die Amnestie verfugte, obwohl die Akten um die Straftaten im Zusammenhang mit der Dreyfus-Affäre noch nicht geschlossen waren. Die Regierung würde klug handeln — so meinen die auf der Rechten sitzenden politischen Kritiker — wenn sie durch Verkündung der politischen Amnestie der nationalen Oppo-

sition eine ihrer gefährlichsten Waffen nehmen würde.

Ein Akt der Klugheit, Gerechtigkeit und Größe

Das Zögern der Regierung de Gaulle, einen baldigen Entscheid herbeizuführen, ist begreiflich. Es gibt mehrere Gruppen unter denjenigen, die die Amnestie fordern. Unter ihnen arbeiten die politischen Freunde und Anhänger der Inhaftierten am wirksamsten. Ihnen kommt es darauf an, mit der Freilassung der Häftlinge einen politischen Sieg zu erringen, so daß die ausgesprochene Amnestie in ihren Augen nicht den Charakter einer Gunst, sondern den einer Rehabilitierung, einer Wiedergutmachung erhält. Damit soll sich die verhaßte Regierung

ins Unrecht setzen. Das Schicksal ihrer politischen Mitstreiter hinter Gittern interessiert sie erst in zweiter Linie.

Neben dieser Gruppe erscheinen die Kämpfer für die Menschlichkeit, die trotz weitgehender poli-

tischer Differenzen mit den Inhaftierten für einen generellen Gnadenakt eintreten, wie etwas weltfremde Romantiker. Sie suchen für die begangenen Gewaltakte objektive Entschuldigungsgründe, indem sie auf die politische Verworrenheit der Zeit oder auf die Jugend vieler Täter hinweisen, denen man nicht durch eine lange Haft die Chancen für eine normale Eingliederung in die Gesellschaft verbauen sollte. Sie glauben, daß den jugendlichen oder im relativ jungen Alter stehenden Gefangenen die Großmut eines Generalpardons zur Selbstbesinnung verhelfen würde und daß nur eine Minderheit zu den Praktiken der Plastikattentate und des Geheim-bündlertums zurückkehren würde. Wie hoch auch das Risiko sein würde — so argumentiert dieser humanitäre Kreis —, man solle es auf sich nehmen und die politischen Häftlinge nicht der Vergessenheit anheimgeben. „Denn das Vergessen“, schreibt der Publizist Pierre Gascar, „ist allzuoft die instinktive Absolution, die wir uns selbst erteilen.“

In diesem Sinne haben sich in letzter Zeit vor allem angesehene Geistliche ausgesprochen. Besondere Beachtung fand ein Ende Juni veröffentlichtes Kommunique des Erzbischofs von Cambrai, Guerry, der in der Amnestie nicht eine Geste der Schwäche erblickt, sondern einen „Akt der Klugheit, der Gerechtigkeit und der Größe“. Freilich tritt der Erzbischof für eine gewisse Unterscheidung unter den Betroffenen ein und zögert beim Gedanken an die Entlassung von Berufsverbrechern und derjenigen, die in aller Offenheit ihre Absicht kundtun, sofort neue Gewaltakte zu begehen, sobald sie in die Lage dazu kommen.

Wie die Debatte in der Presse und in der Öffentlichkeit zeigt, ist der Amnestiekomplex geeignet, neue politische Leidenschaften und Gesinnungskämpfe anzufachen. Selbst Ben Bella hat kürzlich in die Auseinandersetzung eingegriffen, indem er die Freilassung von 1200 Harkis — im Algerienkrieg auf französischer Seite kämpfende Muselmanen — von der Amnestierung von acht Franzosen abhängig machte, die auf Seiten der FLN für die in Evian und durch das Referendum sanktionierte Unabhängigkeit Algeriens kämpften.

Die alten Auseinandersetzungen

Die französische Regierung entgegnete in aller Schärfe, daß sie Landesverräter von der Amnestie ausschließe und keinerlei Erpressung von seiten des algerischen Regierungschefs dulden werde. Diese Stellungnahme, die faktisch wohl mehr eine rhetorische Bedeutung hat, löste bei den französischen Linksintellektuellen wie auch bei der offen mit der OAS sympathisierenden Rechtopposition in gleichem Ausmaß Entrüstungsstürme aus. Dabei kommt es den einen auf die Freilassung der acht Franzosen, den anderen auf die der 1200 Harkis an.

Simone de Beauvoir schaltet sich ein

In ihrer Argumentation stehen sich beide Lager diametral gegenüber: Die Linksintellektuellen, als deren Sprecherin in diesen Tagen die bekannte Schriftstellerin Simone de Beauvoir in den Spalten von „Le Monde“ erschien, haben die Fahne der Menschlichkeit erhoben. Man dürfe — so sagen sie — Idealisten, die die Monstrositäten französischer Soldaten und der Anblick unvorstellbarer Leiden der revoltierenden Araber ins andere Lager trieben, nicht mit dem gleichen Maße messen wie Mörder, die zum Vergnügen muselmanische Kinder abschössen, wehrlose Zivilisten unter

Feuer nahmen, Gefangene umbrachten, Krankensäle der Kliniken in Friedhöfe verwandelten, und Menschen unter abscheulichen Folterungen verenden ließen.

Die Führer der Rechtsopposition erachten es für überflüssig, auf die Beschuldigungen derjenigen einzugehen, die die Gegenseite als Kriegsverbrecher einstuft. Sie kämpfen für die Interessen eines ganzen Kollektivs — „Pieds noirs“, aufständische Armeeeinheiten, OAS und ihre Helfershelfer. Sie verzichten nicht nur auf jede „Reinwaschung“, sondern glorifizieren im Gegenteil die in den Gefängnissen zurückgehaltenen „Märtyrer“, die, wie es der bekannte OAS-Strafverteidiger Le Corroler formuliert, „die Ehre der Armee retten und ihre Häuser und Gräber verteidigen wollten“.

Während man sich auf die Amnestiedebatte nach der Sommerpause vorbereitet, gehen die Verhandlungen vor dem Militärgerichtshof in Vincennes gegen zwei de-Gaulle-Attentäter weiter, die der Bande von Petit-Clainart angehörten. Man fühlt, das Kapitel Algerien ist noch nicht liquidiert. Die alten Ressentiments schwelen unterirdisch weiter, und die Regierung fürchtet, daß sie die Amnestie noch einmal auflodern lassen wird...

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