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Die politische Amnestie in Frankreich

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Als Hauptgegenstand der politischen Tagesordnung erscheint gegenwärtig in Frankreich die Amnestie. Ob ihre Durchführungsbestimmungen zur Zeit des Erscheinens dieses Aufsatzes bereits veröffentlicht wurden oder aber wieder auf etliche Monate hinausgeschoben werden, hängt von dem Ausgang parteipolitischer Auseinandersetzungen ab. Die öffentliche Meinung und die Mehrheit der Presse hat aber schon seit Monaten entschieden für sie Stellung genommen, und seit auch der Präsident der Republik in seinen Reden in Algerien für Versöhnug eingetreten ist, scheint die Entscheidung nicht mehr zweifelhaft.

Der Zustand, der durch die politische Amnestie beseitigt werden soll, ist seit Jahren der inneren Einheit Frankreichs im Wege gestanden. Das Problem der Rückführung der ehemaligen Kollaborateure und Mitläufer in die Gemeinschaft der Nation ist ein heikles und schmerzliches. Die Gerichte, die mit der Aburteilung der Kolkboranten beauftragt sind — die „cour de justices“ —, sollen demnächst aufgelöst werden. Ihre bisherige Tätigkeit ist mehr als umstritten und war — wie dem auch nicht anders sein konnte — durch die Entwicklung der politischen Atmosphäre stets fühlbar beeinflußt. Das gleiche Urteil, das 1945 und 1947 gefällt wurde, strafte Vergehen verschiedener Bedeutung. Ein Amnestieprojekt muß dieser Tatsache Rechnung tragen und kann deshalb als Basis die gefällten Urteile nicht benützen.

Der Kollaborateure gab es viele Arten;. Politiker, die Konjunktur witterten, Kaufleute und Industrielle, die sich schnell bereichern wollten, kleine Leute, die plötzlich eine unverhoffte Gelegenheit vor sich sahen über die anderen herauszuwachsen, indem sie Aufgabenkreise übernahmen, welche die deutsche Besetzungsmacht zu verrichten sich scheute.

Es gab aber auch Politiker, die aus ehrlicher Überzeugung handelten, Kaufleute und Industrielle„ die sich den Wünschen Berlins widerwillig beugten, kleine Leute, die, um das tägliches Brot ihrer Familie zu sichern, ein Kompromiß mit dem schlossen, was sie als „höhere Macht“ betrachteten. Es gab die Konjunkturritter, kurzsichtige Idealisten, zynische Realisten, und es gab die verwirrten Kleinen. Diese Verschiedenheit der Gattungen richtig zu identifizieren, das ist das Gewissensproblem, das sich darbietet und einer Lösung harrt.

Die Art und Weise der Retorsien, die unmittelbar nach der Befreiung Frankreichs und seitdem eingesetzt hat, ist im großen und ganzen bekannt. Auf die Landesverräter fand das Gesetz in aller Härte Anwendung. Dann übernahmen die „cour de justice“ die Aburteilungen. Die ganz Großen und die Kleinen hatten Freiheitsstrafen hinzunehmen. Die Schichten, die dazwischen lagen, kamen oft mit einer Beschlagnahmung des Vermögens und mit einer „nationalen Unwürdigkeit“ (Entziehung des aktiven und passiven Wahlrechtes) verschiedener Dauer davon. Der Vermögensverlust betraf die Reichen nicht allzusehr, die meisten hatten schon früher ihre Vorkehrungen getroffen gehabt. Auch erwies es sich im allgemeinen, daß es gefährlicher, ja lebensgefährlicher ist, als Journalist mit seinem vollen Namen für etwas einzustehen, als in der Eigenschaft als Politiker oder Industrieller tatkräftig und vielleicht auch lukrativ an der Stärkung des Feindes mitzuwirken.

Die Aussprache, die von Zeitungen verschiedener Auffassung über das Thema geführt wurde, beleuchtete es mehr als genug. Die Mehrheit war einig darin, daß die Amnestie unerläßlich sei, damit — wie Remy Roure von „Le Monde“ schrieb t— die Söhne der ehemaligen Widerständler mit den Söhnen ehemaliger Kollaborateure Hand in Hand um ein besseres Frankreich arbeiten können. Es müsse vermieden werden, daß Frankreich Generationen hindurch gespalten lebe und daß die Söhne die Schuld ihrer Väter büßen.

Leider ist die Amnestie nicht nur ein nationales Problem. Wäre dem so, dann stünde ihrer Durchführung gar wenig im Wege, denn fast jeder ist von ihrer Notwendigkeit überzeugt. Sie ist aber auch — und hier sind eigenartige Analogien mit anderen Ländern zu entdecken — eine Frage parteipolitischer Taktik. Die kommunistische Opposition ist an ihr grundsätzlich nicht interessiert. Dies ist durchaus verständlich: die Kommunisten benützten ihre Jahre an der Regierung zur „Entlastung“ aller jener, die ihnen nahegestanden sind. Die Rechtsabgeordneten, die teils die Regierung unterstützen, teils in gemäßigter Opposition zu ihr stehen, halten im allgemeinen das bisherige Projekt für ungenügend. Sie wünschten ein umfassenderes Amnestiegesetz. Das gegenwärtige Projekt des Justizministers wird insbesondere von dem MRP unterstützt. Von sozialistischer Seite steht man einer Amnestie abweisend gegenüber, und nur der Präsident der Republik, der Sozialist Vincent Auriol, tritt für sie ein. Die anderen Parteien der Regierung erhoffen sich von seinem Einfluß eine Änderung der Auffassung seiner Partei.

Die Regierung wird nicht lange warten dürfen, um der öffentlichen Meinung zu folgen. Selbst eine unvollständige Lösung ist besser als keine, wenn sie den Weg öffnet und die Hoffnung erlaubt. Auch darf man nicht vergessen, daß die formelle Amnestie eigentlich nach jener kommt, die praktisch jedem der kleineren Belasteten bereits von ihren Mitbürgern erteilt wurde. Die Versöhnung ist schon im Gange. Irrtümer werden entschuldigt, wenn sie nicht zu strafgesetzlichen Verfehlungen führten. Und die französische Republik ist heute kräftig genug, um Gnade vor Recht ergehen zu Lassen.

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