"Die Türkei ist nicht nur Recep Erdogan"

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Warum der autokratische Präsident Recep Tayyip Erdogan bei den Austrotürken so beliebt ist und was die heimische Politik im Umgang mit der Türkei falsch macht, erklärt der Türkei-Experte Cengiz Günay.

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Warum der autokratische Präsident Recep Tayyip Erdogan bei den Austrotürken so beliebt ist und was die heimische Politik im Umgang mit der Türkei falsch macht, erklärt der Türkei-Experte Cengiz Günay.

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Cengiz Günay meint, dass Erdo gan die ideale Projektionsfläche für anti-türkische Ressentiments bietet und Österreich eine zweischneidige Türkei-Politik betreibt. Der Nahost-Experte und Politikwissenschaftler forscht am Österreichischen Institut für internationale Politik (OIIP).

DIE FURCHE: Österreich ist bei der EU mit der Forderung abgeblitzt, die Türkei-Beitrittsverhandlungen abzubrechen. Warum fährt Österreich eine besonders strenge Linie?

Cengiz Günay: Österreich hat hier nicht aus Sorge um die türkische Demokratie einen Vorreiterkurs eingeschlagen, sondern motiviert vom Türkei-und migrationskritischen innenpolitischen Diskurs, der durch die Bundespräsidentenwahl und die populistische Stimmung weiter angeheizt wurde. In vielerlei Hinsicht ist Erdogan die Verkörperung von Ressentiments, die es gegenüber türkischstämmigen Menschen in Österreich und gegenüber der Türkei ohnehin gibt. Die Demonstrationen haben diese Wahrnehmung weiter bestätigt. Aber Erdogan ist nicht die Türkei, genauso wenig wie die FPÖ Österreich ist.

DIE FURCHE: Wobei die FPÖ nicht regiert, während Erdogan allein regiert.

Günay: Das stimmt, aber die FPÖ prägt die Außenwahrnehmung von Österreich stark, auch wenn nicht alle Österreicher FPÖ wählen. Genauso findet nicht jeder in der Türkei die AKP gut, und nicht jeder, der die AKP gut findet, ist ein autoritär geprägter Mensch. Nun nach dem Abbruch der Beitrittsverhandlungen zu rufen, ist in der Türkei und in EU-Kreisen auf Empörung gestoßen, weil so die demokratischen Kräfte der Türkei weiter geschwächt werden würden. Durch die Bestrafung Erdogan wird das ganze Land in Geiselhaft genommen. Das stärkt einen von Nationalismus und Trotz geprägten Diskurs.

DIE FURCHE: Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) hat gesagt: "Wer sich in der türkischen Innenpolitik engagieren will, dem steht es frei, unser Land zu verlassen." Ein unkluger Schachzug?

Günay: Die unausgesprochene Forderung, dass Menschen ihre Identität, ihre Herkunft abstreifen, ist unrealistisch. Das spielt sich in Zeiten der Medienglobalisierung nicht mehr. Vor allem dann nicht, wenn man diesen Leuten ständig vorhält, dass sie anders sind. Viele junge Austrotürken fühlen sich angezogen von Erdogan, weil er sich erfolgreich als ein Vertreter ihrer Rechte und Interessen darstellt. Vor dem Hintergrund, dass sich viele isoliert, diskriminiert, nicht gewollt fühlen, ist ein polternd Auftretender, der mit erhobenem Zeigefinger mit Merkel und Kern spricht, umso attraktiver - gerade angesichts der ständigen Negativ-Berichterstattung. Als Folge wird das, was von der Außengruppe als negativ dargestellt wird, irgendwann hochgehoben zu einem Identitätsmerkmal -Erdogan bespielt dieses psychologische Phänomen sehr erfolgreich.

DIE FURCHE: Man würde meinen, die Auslandstürken hätten durch die kritischen Berichte in der EU mehr Distanz zu Erdogan.

Günay: Die AKP-Regierung hat die Beziehung zu den Auslandstürken und das Service in den Konsulaten wesentlich verbessert. 80 Prozent der Wiener Türken stammen aus der Provinz Yozgat, eine landwirtschaftlich geprägte Region im Osten von Ankara. Die AKP hat stark dieses anatolische Hinterland gefördert. Im Sommerurlaub ist diese Gruppe mit positiven Veränderungen konfrontiert, sieht Bilder des Aufbruchs und weniger die negativen Einschränkungen, weil sie nicht dort leben. Gleichzeitig sind rund 80 Prozent der türkischen Medien gleichgeschaltet, berichten unkritisch oder unpolitisch.

DIE FURCHE: Die türkisch geprägte Arbeiterkammerfraktion "Neue Bewegung für die Zukunft" (NBZ) in Vorarlberg hat gekontert, man wäre bereit, Österreich zu verlassen, wenn Sozialversicherungs- und Pensionsbeiträge ausgezahlt würden. Eine symbolische Drohung?

Günay: Welche Legitimierung hat diese Gruppe, für die sehr diverse und unorganisierte Community zu sprechen? Ich verstehe, dass man aus Sicht der Politik gerne Ansprechpartner haben möchte, aber es ist höchst problematisch, sich immer mehr auf religiöse Vertreter oder Vereine zu stützen, obwohl diese keine demokratisch legitimierten Vertretungsorgane sind. Ich fand es auch schwierig, dass der Kanzler nach den kritisierten Demonstrationen just religiöse Vertreter zu sich geladen hat. Man kritisiert die Verquickung von Religion und Politik durch die AKP, aber verfällt bei der Bekämpfung in dieselben Muster.

DIE FURCHE: Sind die beiden Joker der EU, nämlich Beitrittsverhandlungen und Visa-Erleichterungen, soviel weniger machtvoll als der Flüchtlingsjoker der Türkei?

Günay: Jein. Der Flüchtlingsdeal ist kritikwürdig, aber war das effektivste Mittel, um die unkontrollierte Menschenflut zu stoppen, was ja das Hauptziel jener Regierungen war, die Druck von populistischen Gruppen bekommen. Der Machtpolitiker Erdogan hat gewieft diese Schwachstelle einiger europäischer Regierungen genutzt. Aber die Türkei braucht die Kooperation der EU, weil drei Millionen Flüchtlingen eine enorme Last sind. Verschwiegen wird gerne, dass die EU bei der Übernahme von Flüchtlingen aus der Türkei säumig ist.

Das Gespräch führte Sylvia Einöder

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