Der unsichere Vorposten der EU
Mit der Visa-Freiheit für türkische Bürger will sich die EU vom Flüchtlingsproblem loskaufen. Doch damit handelt sie sich letztlich sehr gefährliche Probleme ein.
Mit der Visa-Freiheit für türkische Bürger will sich die EU vom Flüchtlingsproblem loskaufen. Doch damit handelt sie sich letztlich sehr gefährliche Probleme ein.
Ein Handel braucht Geber und Nehmer. In der politischen Realität geht das so: Die Türkei nimmt nach einem Plan, den die EU ausgearbeitet hat, Flüchtlinge aus Griechenland zurück. Im Gegenzug dafür haben türkische Staatsbürger Reisefreiheit in Europa. Was das eine Thema mit dem anderen zu tun, mag man fragen. Die Antwort müsste eigentlich lauten "wenig bis gar nichts", aber in der Diskussion wird sie kaum gestellt. Immerhin geht es ja um die "vitalen Interessen Europas"(Angela Merkel).
Und wie die aussehen, kann man in dem Dokument "Roadmap towards a Visa-free Regime with Turkey" nachlesen, das insgesamt 72 Forderungen Europas an die Türkei enthält, die als Grundbedingungen für die Visa-Aufhebung genannt werden. Die meisten von ihnen sind nicht bekannt oder werden von der EU-Kommission als "verwaltungstechnische Adaptionen" erklärt. Aber das ist nicht so. Vielmehr handelt es sich um eine Handlunganleitung zur "signifikanten und nachhaltigen Reduktion" der Flüchtlingszahlen, wie es in dem Papier heißt.
Dabei setzt die EU nicht an den EU-Außengrenzen an, sondern an den Grenzen der Türkei zu den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens: Die Türkei soll sich auf europäischen Wunsch nämlich dazu verpflichten, "ihre Gesetze für Menschen, die aus wichtigen Ursprungsländern illegaler Migration Richtung Europa kommen, anzupassen - mit dem Ziel, den Zugang in die Türkei zu erschweren." Das alles, "um damit ihre spätere Überquerung der EU-Außengrenze zu behindern".
Hartes Vorgehen an den Grenzen
Dieser Passus betrifft also konkret Flüchtlinge aus dem Irak beziehungsweise Afghanistan, die über den Iran Richtung Europa unterwegs sind, sowie Flüchtlinge aus dem Bürgerkriegsland Syrien, die in die Türkei fliehen wollen. Die europäische Roadmap geht aber noch weiter. An den türkischen Grenzposten sollten insbesondere für Angehörige von Nationen, die ein hohes "Migrationsrisiko für die EU" darstellen, die Ausstellung von Visa für die Türkei "abgeschafft werden".
Die Türkei scheint sich an diesen Teil des Abkommens zu halten. Laut Amnesty International häufen sich seit Wochen Zurückweisungen an der türkisch-syrischen Grenze sowie Deportationen nach Syrien ohne jedes rechtsstaatliche Verfahren.
Dafür sind andere Teile des Abkommens scheinbar weniger Gegenstand sowohl des türkischen als auch des europäischen Interesses. So setzt die Visa-Freiheit beispielsweise voraus, dass Frauen, Kinder, Religionsgemeinschaften und Minderheiten in der Türkei nicht diskriminiert werden. Der Chef von Amnesty International Österreich Heinz Patzelt meint, dass der "Beinahe-Bürgerkrieg in den kurdischen Gebieten zeigt, das dieser Zustand nicht einmal annähernd erreicht ist". Zunehmend widmet sich Pazelt auch in anderen Punkten dem EU-Türkei-Abkommen mit "grausendem Interesse".
Doch die Fragwürdigkeiten gehen noch darüber hinaus. So fordert die EU in ihrer Visa-Roadmap ein verstärktes Vorgehen gegen die Korruption im Beamtenapparat, vor allem im Kampf gegen Terroristen. Ob das die türkischen Gerichte und Regierungskreise allerdings auch so verstanden haben, ist mehr als fraglich.
Beispielsweise hatten zwei Journalisten der Zeitung Cumhuriyet Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an radikale Islamisten in Syrien aufgedeckt. Deshalb stehen sie nun unter dem Vorwurf der Spionage, des Umsturzversuchs und der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation vor Gericht.
Die Voraussetzungen in diesen und anderen Bereichen würden also klar gegen eine Visa-Aufhebung sprechen. Vor allem weil durch die gegebenen Missstände, wie etwa die jahrelange stillschweigende Förderung des IS durch türkische Beamte, davon auszugehen ist, dass sich die Sicherheitslage für Europa nicht verbessert, sondern verschlechtert, wenn die Blockade der Schutzsuchenden vielen mit der Reisefreiheit der radikalen wenigen erkauft wird.
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