Scharaden um die Grenze

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Statt Solidarität verordnende EU-Gesetze zu vollziehen, wollen Europas Politiker wegen des Flüchtlingsdramas am Mittelmeer die Schengen-Reisefreiheit opfern.

Manchmal lässt sich auch an Gesetzen ablesen, wie sehr sich die Moral - vor allem jene der Politik geändert hat. Nehmen wir beispielsweise die Solidarität mit Flüchtlingen aus Krisengebieten: 1999 entbrannte ein von der NATO geführter Krieg gegen die Jugoslawische Armee Slobodan Milosˇevic´s um die Befreiung der mehrheitlich von Albanern bewohnten Provinz Kosovo. Hunderttausende Kosovaren und Angehörige anderer Volksgruppen wurden aus dem Gebiet vertrieben, zuerst durch ethnische "Säuberungen“ der jugoslawischen Armee, dann durch die NATO-Bombardements. Europa half. Bereitwillig wurden die Flüchtlinge aufgenommen, versorgt und auf die Staaten der Union verteilt.

Zwei Jahre später gossen die Führer Europas diese Erfahrung in eine Richtlinie, die im Juli 2001 beschlossen wurde. Die Richtlinie 55/2001 liest sich heute wie eine Relikt aus einer längst versunkenen Zeit und hätte auch nur nostalgischen Charakter - wäre sie nicht noch immer gültiges EU-Recht.

Verhalten bei Massenbewegung

Des Gesetz regelt detailliert den Umgang der Union mit einem "Massenzustrom von Vertriebenen“. Ein "Solidaritätsmechanismus“ soll "dazu beitragen, dass die Belastungen, die sich aus dem Massenzustrom ergeben, auch ausgewogen auf die Mitgliedsstaaten verteilt werden“. Ein Teil des Gesetzes umfasst die Finanzierung der Hilfsaktivitäten, ein anderer die Verteilung der Personen auf die EU-Staaten.

So weit die gesetzliche Theorie. Aber wie sieht die politische Praxis aus?

Da klagt Italiens Regierungschef Silvio Berlusconi gemeinsam mit seinem Lega-Nord-Innenminister Roberto Maroni seit Wochen über eine "Flüchtlingslawine“ aus Nordafrika, die Italien überziehe.

Setzt sich die Regierung in Rom aber deshalb für den Vollzug der Richtlinie 55/2001 ein? Nein. Besteht es auf den gesetzlich verankerten Solidaritätsmechanismus? Nein. Was tut Die Regierung in Rom stattdessen? Sie will sich der Flüchtlinge entledigen, indem sie sie mit Schengen-Touristenvisa ausstattet und sie an die Nordgrenze Italiens spedierte - Richtung Frankreich.

Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy reagiert erbost. Die Regierung in Paris veranlasst Grenzkontrollen und protestiert. Und dann geschieht Seltsames: Bei einem Gipfeltreffen in Rom verkünden Berlusconi und Sarkozy den Königsweg aus der angeblichen Flüchtlingskrise: Nicht Solidarität ist es und auch nicht der Ansatz zu einer gesamteuropäischen Flüchtlingspolitik. Dagegen fordern sie die "Änderung des Schengenabkommens“ - und damit die Möglichkeit vorübergehender Aufhebung der Reisefreiheit in der Union - was nichts anderes bedeutet als die Beschneidung einer der vier Grundfreiheiten der Union.

Die Grenzen dicht

Ungeklärt in der aufgeheizten Debatte bleibt, ob denn so ein Flüchtlingsansturm derzeit tatsächlich vorliegt? An den nackten Zahlen ist er nicht abzulesen - jedenfalls noch nicht. Grob geschätzt 28.000 Flüchtlinge sind seit März an der italienischen Küste gestrandet. Zum Vergleich: Österreich nahm während des Bosnienkrieges 90.000 Flüchtlinge auf. Die Zahl 28.000 nimmt sich auch relativ klein aus gegen 500.000 Menschen, die pro Jahr illegal nach Europa wollen. Und was sind die Leiden Italiens gegen jene Griechenlands, das nach Angaben des Völkerrechtsexperten Manfred Nowak in seinen Auffanglagern 90 Prozent aller in Europa ankommenden illegalen Einreisenden versorgen muss - und damit seit Jahren völlig überfordert ist?

Wie dem auch sei. Die erste Zustimmung zur Einschränkung der Schengenfreiheit kam erstaunlicherweise von jener Institution, deren eigentliche Funktion es ist, über die Einhaltung der EU-Verträge zu wachen: der EU-Kommission in Brüssel. Ein sinnvolles Einlenken? Rechtsexperten widersprechen dem scharf. Der Innsbrucker Europarechtler Waldemar Hummer sieht damit die "Philosophie von Schengen gebrochen“: "Das hebt ein System aus den Angeln, das geradezu sensationell funktioniert hat.“ Auch der Wiener Völkerrechtsexperte Manfred Nowak konstatiert: "Das ist wirklich absurd, weil es in die völlig falsche Richtung geht.“ Und auch die EU-Expertin Sonja Puntscher Riekmann sieht im Standard-Interview "Das Gegenteil des europäischen Geistes“ verwirklicht.

Im Wiener Außenministerium und in der EU-Vertretung Österreichs in Brüssel ist von "sanftem Druck“ der Franzosen und Italiener die Rede, Schengen aufzuweichen. Das wirkte offensichtlich -zumindest in Österreich: Die neue Innenministerin Johanna Mikl-Leitner kann sich punktuelle Kontrollen vorstellen, Außenminister Michael Spindelegger ebenso.

Schiefe Optik

Die schiefe Optik wird noch dadurch verstärkt, dass Brüssler Beamte sehr wohl darauf hinweisen, dass es sich um "innenpolitische Spiele in Italien und Frankreich handelt“. Eine Schlussfolgerung, die naheliegt, wird Berlusconi doch von einer Reihe von Sex- und Korruptionsskandalen geplagt - und die Umfragewerte von Frankreichs Nicolas Sarkozy lassen einen Erfolg bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr unwahrscheinlich erscheinen. Was leichter, als sich auf Kosten der EU ein paar Popularitätspunkte zu holen?

Das würde auch erklären, warum eine Grundfreiheit, die nichts mit dem Flüchtlingsproblem zu tun hat, plötzlich in die Diskussion gezogen wird. Denn würde das eigentlich vorgesehene Gesetz (also Richtlinie 55/2001) zum Einsatz kommen, müssten den ankommenden "Massen“ mindestens ein Jahr Aufenthalt gewährt werden. Die Mitgliedsstaaten müssten den Personen "die Ausübung einer abhängigen oder selbstständigen Erwerbstätigkeit gestatten sowie "Hilfe durch Sozialleistungen, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts“.

Die Realität sieht anders aus: Erst am Montag wurden Vorwürfe laut, europäische Marine-Schiffe seien einem steuerlos treibenden Flüchtlingsboot trotz erfolgtem Kontakt und Ortung nicht zu Hilfe gekommen. Mehr als eine Woche nicht. Von 72 Bootsflüchtlingen verdursteten 61.

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