Staatsgrenze - © Fotos: Bernd Ctortecka

Schengen und Corona: „Ins nationale Schneckenhaus“

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Vor genau 25 Jahren trat Österreich dem Schengener Abkommen bei, in den darauffolgenden Jahren wurden die Kontrollen an den Grenzen zu den Nachbarländern sukzessive eingestellt. Die aktuelle Situation liefert ein konträres Bild, derzeit dominiert Abschottungsdenken.

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Vor genau 25 Jahren trat Österreich dem Schengener Abkommen bei, in den darauffolgenden Jahren wurden die Kontrollen an den Grenzen zu den Nachbarländern sukzessive eingestellt. Die aktuelle Situation liefert ein konträres Bild, derzeit dominiert Abschottungsdenken.

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Am 28. April 1995 trat Österreich dem Schengener Abkommen bei. Knapp drei Jahre später wurden an den Grenzen zu Italien und Deutschland die Kontrollen eingestellt – damals ein großer Schritt für ­Europa. 25 Jahre später gibt es wenig Anlass, ein Jubiläum zu feiern. Ein Gespräch mit dem Historiker Michael Gehler aus Innsbruck, der seit 2006 dem Institut für Geschichte an der Universität Hildesheim vorsteht. Sein Standardwerk „Europa. Ideen – Institutionen – Vereinigung – Zusammenhalt“ wurde zuletzt 2018 neu aufgelegt.

Die Furche: Wenn Sie an den Beitritt Österreichs zum Schengener Abkommen 1995 denken: Welche Ängste, welche Hoffnungen waren damit verbunden? Welche Erwartungen gingen (nicht) in Erfüllung?
Michael Gehler: Derzeit bin ich an meinem Arbeitsplatz in Hildesheim im Homeoffice. Ein Vortrag am 29. April in Innsbruck wurde abgesagt und ein anschließender Besuch von Angehörigen in Südtirol unmöglich. So hat man sich ein grenzenloses Europa vor 25 Jahren nicht vorgestellt, aber die Corona-Krise ist ein Jahrhundertereignis, wovon auch das Schengen-Recht betroffen ist. Seine Aufnahme in den EU-Vertrag von Amsterdam 1999 schien eine neue Welt zu verheißen. Ich erinnere mich noch an Urlaubsfahrten mit dem elterlichen VW-Campingbus nach Italien in den 1970er Jahren und die langen Staus an der Brenner-Grenze wegen der Passkontrollen. Mehr oder weniger freundliche Zollbeamte winkten uns dann durch. Die Erwartungen an Schengen waren daher realistisch. Erinnert sei an strenge Kontrollen an der Grenze zu Tschechien, der Slowakei und Ungarn, als diese Länder noch nicht zur EU gehörten. Das war vor 2004. Die Euphorie über Schengen hielt sich in Grenzen, weil mehr Kriminalität und illegale Zuwanderung befürchtet wurden. Für den funktionierenden Binnenmarkt erfüllte Schengen jedoch ­alle Erwartungen.

Die Furche: In Ihrem Europa-Buch schreiben Sie, Schengen stehe für ein „scheinbar grenzenloses“ ­Europa. Wieso „scheinbar“?
Gehler: Die Staatsgrenzen bestehen ja rechtlich unverändert weiter. Aufgehoben wurden die Grenzkontrollen und dies auch nur bis auf Weiteres. Hinzu kam verstärkter Außengrenzschutz – also auch hier gab es kein grenzenloses Europa.

Die Furche: Heute kann in Europa selbst von „scheinbarer“ Grenzenlosigkeit keine Rede mehr sein. Seit März sind viele Grenzen in Europa geschlossen wie vor 25 Jahren nicht. Kann es sein, dass Europa den „langen Weg zum Schengen-Raum“ (Andreas Pudlat) nun wieder rückwärts geht?
Gehler: Geschichte verläuft nie als homogenes Kontinuum. Schengen sieht ja auch Aufhebungen vor. Ich erinnere an den G8-Gipfel in Genua 2001, als Italien aus Sorge vor Globalisierungsgegnern die Brenner-Grenze dicht zu machen versucht hat. Der Weg zurück ist 2015 bereits eingeschlagen worden. Der Glaube von der Unumkehrbarkeit der Integration ist ein Mythos. Dieses Dogma wird in Brüssel nicht mehr vertreten.

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