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UNGARNS HISTORISCHE BRÜCKE ZUM WESTEN

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Der ungarische Historiker Ferenc Glatz, Leiter des Instituts für Geschichte in Budapest und ehemaliger Kulturminister, sieht in der Tatsache, daß in Wien und Buda derselbe Herrscher regierte, einen positiven Faktor der ungarischen Geschichte.

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Der ungarische Historiker Ferenc Glatz, Leiter des Instituts für Geschichte in Budapest und ehemaliger Kulturminister, sieht in der Tatsache, daß in Wien und Buda derselbe Herrscher regierte, einen positiven Faktor der ungarischen Geschichte.

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FURCHE: Herr Professor Glan, Sie gelten als Kenner und Förderer der österreichisch-ungarischen Beziehungen. Wie sehen Sie die konkreten Perspektiven?

PROFESSOR FERENC GLATZ: Österreich ist und bleibt Ungarns west-licher Nachbar. Die Bürger unserer Länder sind miteinander seit Jahrhunderten in individueller Hinsicht, ich denke dabei auch an Verwandtschaften, verbunden. Auf jeden Fall trifft es zu, daß das neutrale Öster-' reich schon dem Kadar-Regime in seinem Liberalisierungsprozeß vorzügliche Kontaktmöglichkeiten angeboten hat. Bereits in den sechziger Jahren setzte die intensivere Pflege wissenschaftlicher und kultureller Kontakte ein. Diese standen aber stets im Schatten der Blockzugehörigkeit Ungarns. So konnte es kommen, daß Stipendiaten und Wissenschaftler einander nicht selten „spionageverdächtig" waren.

FURCHE: Als Kulturminister der sozialistischen Regierung Miklos Ne-meths haben Sie es auch von einer besonderen Perspektive erleben können.

GLATZ: Im Mai 1989 verkündete die Nemeth-Regierung das sogenannte Zurück-Nach-Europa-Programm, das sich damals am stärksten in der Kulturpolitik realisierte. Nehmen wir da beispielsweise eine mehr oder weniger alltägliche Sache, wie die Abschaffung des Jahrzehnte hindurch als Pflichtfach geltenden Russischunterrichtes in den Schulen. Das war, muß ich betonen, kein politischer Schritt. Wir hatten und haben ja keinen Grund, die Beziehungen zur UdSSR zu verschlechtem. Es ging uns dabei lediglich darum, die Gesellschaft auf die intensivere Aufnahme der westlichen Sprachen vorzubereiten. Bei der Re-Intregration Ungarns in Europa muß man sich folgendes bewußt machen: An die europäische Kultur können wir am leichtesten durch unseren westlichen Nachbarn herankommen. Anderseits erhebt sich die Frage: Wer wird in Ungarn investieren? Nun, vor allem jene Unter-

nehmen, die auch jederzeit imstande sind, die Entwicklung ihres Kapitals vor Ort zu kontrollieren.

FURCHE: Geographisch müßte also Osterreich die besten Chancen haben. Angesichts der ineffektiven Produktionsstrukturen und, machen wir uns nichts vor, der niedrigen Arbeitsmoral ist die Attraktivität Ungarns wohl stark fraglich?

GLATZ: Einer der verheerendsten Schäden des stalinistischen Modells war bei uns die Degradierung des Arbeitsniveaus und die Zerstörung der Arbeitsmoral. Betrug, Diebstahl und Lüge haben das Feld erobert. Wenn einer Gesellschaft Ziele gesetzt werden, die sie ohnehin nicht erreichen kann, während von ihr zugleich verlangt wird, daß sie diesen Zielen auf dem Papier gerecht wird, beginnt die Schizophrenie. Zugleich hieß es in den marxistischen Lehrkursen, man lebe in der sowjetischen Einflußzone auf einer höheren Ebene der gesellschaftlichen Entwicklung. Der Alltagsmensch sah diesen Widerspruch freilich, achtete aber schon weniger darauf, daß die schwächere Technologie von ihm auch eine schwächere Leistung erforderte und daß seine Qualitäten in Wahrheit weit hinter den westlichen Erfordernissen lagen. In so einer Lage bedeutet Investieren in Ungarn stets ein Risiko und es ist nur zu verständlich, daß der Unternehmer Tag für Tag wissen möchte, wie mit seinem Kapital gewirtschaftet wird. Österreich ist für uns also der natürlichste Wirtschaftpartner.

FURCHE: Die Beziehungen können sich jedoch nicht im Wirtschaftsbereich erschöpfen.

GLATZ: Nein, gewiß nicht. Bei der Heranbildung der gesellschaftlichen und politischen Institutionen müssen bei uns vor allem die westeuropäischen Erfahrungen zur Geltung kommen. Es geht jedoch nicht ums Kopieren, sondern ums Kapieren. In dieser Hinsicht kommt Österreich wieder einmal eine große Bedeutung zu. Das parlamentarische System, die starken Kommunalverwaltungen, die mit sozialen Sicherheiten versehene moderne Marktwirtschaft, die sich den Anforderungen der modernen Zeit stellende christliche Politik und zugleich auch eine starke soziale Bewegung, die das Ziel hat, unter den Arbeitnehmern das soziale Netz auszuspannen - das alles müssen wir eingehend studieren. Ungarn ist, wie

Österreich, ein kleines Land; es liegt also auf der Hand, daß es in Österreich nicht nur den Handelspartner erblickt, sondern auch den Nachbarn, von dessen politischer Struktur es einiges lernen kann.

FURCHE: Es gibt auch Vorbehalte - viele berufen sich auf Komplexe, die gerade aus der gemeinsamen Geschichte stammen.

GLATZ: Ja, das stimmt. Was die Habsburger-Zeit betrifft, so geht es vielen wie nach einer schlechten Ehe: Die Partner neigen dazu, sich nur an das Üble zu erinnern. Auf österreichischer Seite sind noch manche Reflexe lebendig, wonach die Ungarn, die ständigen Rebellen, unordentlich und schlampig seien und dauernd versuchten, die Österreicher zu überlisten. Auf ungarischer Seite heißt es wiederum, die Österreicher wollten die Ungarn stets ausnutzen, aus der Zusammenarbeit mit ihnen nur einen Extraprofit herausschlagen und bei jeder gemeinsamen Initiative die Führung übernehmen. Ich gehe davon aus, daß diese Komplexe durch die Verbesserung der Alltagsbeziehungen schrittweise abgebaut werden.

FURCHE: Das setzt aber Aufgeschlossenheit auf beiden Seiten voraus.

GLATZ: Die Ungarn müssen endlich zur Kenntnis nehmen, daß sie sich auf dem Gebiet der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Beziehungen den österreichischen Normen anpassen müssen. Und was die Österreicher angeht, so ist es zu hoffen, daß sie auch mal ihr in Europa einmaliges bürokratisches Denken aufgeben. Denn beim gemeinsamen Heurigen der Nachkommen ehemaliger k. u. k.-Bürger stellt es sich immer wieder heraus, daß man eigentlich recht wenig gegen die Deutschen (gemeint sind die deutsch sprechenden Österreicher, Anm. d. Red.), gegen die Habsburger und gegen die Steuern hatte, um so mehr aber gegen die widersinnige Bürokratie. Der österreichische Bürokrat erregte bei den Nachbarvölkern viel mehr Widerwillen gegen Wien als all die Habsburger. Und das gilt auch für die Gegenwart.

FURCHE: Es gibt allerdings eine Vergangenheitsbewältigung, die je-/der für sich vollziehen muß. Wiese haut es bei den Schulbüchern aus?

GLATZ: Eine gründliche Überprüfung der Schulbücher ist unerläßlich. In den letzten zehn Jahren ist es uns in Ungarn bereits gelungen, die Schauermärchen über die Habsburger-Kolonial isierung aus den Geschichtsbüchern zu verbannen. Wir sind aber noch immer nicht so weit, deutlich jene Vorteile aufzuzeigen, die uns durch die Zugehörigkeit zum Reich zuteil wurden. Unsere sogenannten Westkontakte auf der Ebene des Geistes und der Wirtschaft waren in den vergangenen Jahrhunderten vor al-

lern der Tatsache zu verdanken, daß in Wien und in Buda ein und derselbe Herrscher regierte. Ein gemischter Ausschuß zur Überprüfung der Lehrbücher des Geschichtsunterrichtes ist bereits ins Leben gerufen worden. Was nun Zustandekommen muß, ist eine noch engere und wirksamere Zusammenarbeit.

FURCHE: Sie gelten als Vorkämpfer eines von ideologischen Ballasten befreiten Denkens. Sollen Ihrer Meinung die Kirchen bei der Gestaltung der österreichisch-ungarischen Beziehungen eine Rolle spielen?

GLATZ: Die staatliche Kontrolle hat in der sowjetischen Einflußsphäre die Kirchen vollends ruiniert. Sie hat ihnen nicht nur die Schulen genommen, sondern auch den Nachschub gesperrt. Dabei habe ich vom politischen Druck, der auf breiten Schichten der Gesellschaft lastete, noch gar nicht gesprochen. 1991 sind die Kirchen in Ungarn fünfzig Jahre hinter den westeuropäischen zurück. Und sie können sich aus eigener Kraft nicht auf die Beine stellen - weder geistig noch finanziell. Auch auf sie wartet ein Lernprozeß. Studiert werden müssen da unter anderem das Verhältnis von Bürger und Kirche, die Suche nach moralischer Erneuerung und das Verhältnis von Kirche und Staat in der westeuropäischen Gesellschaft. Auch in dieser Hinsicht kön-

nen wir wieder auf die geistige Hilfe Österreichs hoffen. Mehr noch: Wir wollen auch an die Probleme der sozialistischen Bewegung denken. In Ungarn ist der Sozialismus gegenwärtig ein abgelaufenes Programm. Ich bin aber sicher, daß sich die Idee demnächst wieder stärker melden wird. Die sozialistischen Bewegungen müssen sich allerdings von all den Zügen und der Erbschaft der Diktatur des Proletariats befreien, um wieder einen europäischen Sinn zu bekommen. Österreich gehört zu den Staaten in Europa, wo die sozialistische Partei eine sehr positive Rolle in der Gesellschaft einnimmt und imstande ist, mehrere Probleme zu formulieren, worauf die pluralistische Gesellschaft Anspruch hat. Ich könnte aber noch viele weitere Bereiche aufzählen, wo uns Österreich maßgebende Beispiele liefern kann. Solche sind die Volkshochschulen, die Gerichte, die rechtlichen Regelungen der Kommunalverwaltungen, die Menschenrechte und so fort.

FURCHE: Welche Möglichkeiten haben Sie als Direktor des Institutes für Geschichte, als Historiker und als inoffizieller Kulturpolitiker, dazu beizutragen?

GLATZ: Ich kann mir vorstellen, daß die mittel-und osteuropäischen Länder Österreich recht große Möglichkeiten auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet bieten. Mit Herrn Minister Busek sind wir dabei, diese neue Mitteleuropa-Politik auf dem Gebiet der Kulturpolitik gemeinsam auszuarbeiten. Wir Ungarn haben die erste Hilfe zum Erlemen einer Fremdsprache von Österreich erhalten -mehrere Dutzend Germanisten sind als Lektoren und Lehrbeauftragte an unseren Hoch- und Mittelschulen tätig. Das im März 1990 unterzeichnete Kulturabkommen - das jährlich zehn Millionen Schilling vorsieht - hat bereits eine Reihe von kulturellen und wissenschaftlichen Projekten ermöglicht. Es gibt wertvolle Initiativen auf dem Gebiet der Facharbeiterausbildung, zur Eröffnung eines österreichischen Gymnasiums in Budapest und so weiter. Mitteleuropa muß in den nächsten Jahrzehnten der ganzen Welt gegenüber aufgeschlossen sein. Österreich könnte bei der Herausbildung dieser Aufgeschlossenheit eine Schlüsselrolle spielen. Das Interview führte Gabor Kiszely.

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