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Seit dem Schengen-Abkommen sind die Grenzen zwischen Österreich, Deutschland und Italien ein kilometerlanges Denkmal. Ein Lokalaugenschein

Wer das Wort "Grenze" hört, blickt mit dem inneren Auge unwillkürlich nach Osten. Das Wort lässt an die neue Außengrenze der eu denken, die sich weit nach Osten verschoben hat. In letzter Zeit rückt auch die Grenze zu den östlichen Nachbarländern, zu Tschechien, Ungarn, Slowenien und der Slowakei, wieder stärker ins Blickfeld. Denn bald schon, voraussichtlich im Oktober 2007, sollen die neuen eu-Mitglieder in den Schengen-Raum eingegliedert werden. An der Grenze, die derzeit noch das Bundesheer überwacht, werden dann alle Kontrollen wegfallen.

Auch im Westen Österreichs verlaufen Grenzen; Grenzen, die freilich eine ganz andere Geschichte haben als jene im Osten, schon allein deshalb, weil hier die Menschen auf beiden Seiten deutsch sprechen. Und doch wurden diese Grenzen bis vor kurzem nicht weniger argwöhnisch bewacht. Es ist gerade einmal zehn Jahre her, dass jeder, der das Land in Richtung Deutschland oder Italien verließ, mit strengen Kontrollen rechnen musste. Auch wer nichts dabei hatte, was den Unmut der Grenzwächter hätte erregen können, spürte meistens eine gewisse Beklemmung, wenn er sich den Kontrollposten näherte, und bemühte sich, nicht aufzufallen, um der Zeit raubenden Überprüfung des Autos oder des Gepäcks zu entgehen.

Die Ent-Grenzung 1997

Dann kam Schengen. Im Jahr 1995 trat Österreich dem gleichnamigen Abkommen bei, und schon Ende 1997 wurden die Kontrollen an den Grenzen zu Deutschland und Italien eingestellt. Seither kann der Verkehr ungehindert passieren. Ins Nachbarland zu fahren, ohne aufgehalten zu werden, ist selbstverständlich geworden. Die Gebäude, wo früher die Kontrollen stattfanden, nimmt der Reisende - wenn überhaupt - nur noch aus den Augenwinkeln wahr. Viele dieser Gebäude stehen leer, nur für manche fand sich eine neue Verwendung, einige wurden bereits abgerissen. Die architektonischen Überreste der Grenze befinden sich im Zustand der Verlassenheit und des Übergangs. Doch gerade dadurch sind sie wertvolle Symbole für den historischen Wandel in Europa und für die Ästhetik des Staates zu Beginn des 21. Jahrhunderts - ein kilometerlanges Denkmal.

Um dieses Denkmal zu besichtigen, muss man sich Zeit nehmen und, die üblichen Reiserouten schneidend, an der Grenze entlangfahren. So wie der Fotograf Bernd Ctortecka, der sich im Frühjahr 2005, zehn Jahre nach Österreichs Beitritt zum Schengen-Abkommen, an der deutsch-österreichischen Grenze auf Spurensuche begeben hat. Seine Aufnahmen dokumentieren die stillgelegten Grenzanlagen von Bregenz bis zum Böhmerwald: Leere Bauten, deren abblätternde Farben und abgenutzte Türgriffe noch etwas von jener bürokratischen Aura verströmen, die ihnen eigen war, und über die sich jetzt stille Verwahrlosung legt.

Zuweilen trifft man unterwegs, wie in Scharnitz, einen pensionierten Grenzer, der im Auftrag der Bundesimmobiliengesellschaft die Heizung anstellt, damit die Gemäuer nicht verschimmeln. An manchen Orten haben sich Kioske eingenistet, deren Reklamen für Vignette und Stroh-Rum gleichsam an die Stelle der staatlichen Grenzsymbole treten. Aber weil die Grenze nicht mehr zum Anhalten zwingt, ist es kein sicheres Geschäft: Der Kiosk am Übergang Salzburg-Mitte wurde genau am dem Tag geschlossen, als der Fotograf dort vorbeikam.

Asyl an Ex-Grenze

An anderen Orten entsteht Kunst, wie in Burghausen, wo Kinder eine Arche gebaut haben, die leer daliegt, als sei sie am Ufer der Salzach gestrandet. Wie gestrandet wirken auch eine Hand voll Flüchtlinge, die im Bundesasylamt, das sich im früheren Zollamt Salzburg-Mitte eingerichtet hat, auf die Bearbeitung ihres Falles warten. Die Pointe ist klar: Obwohl die Grenzen offen sind, bleiben die Flüchtlinge immer noch an ihnen hängen. Oder die Kontrollgebäude werden, wie in Oberreute, gleich in Asylbewerber-Unterkünfte umfunktioniert. Schwieriger ist es dagegen mit den großen Anlagen in Hörbranz und Braunau am Inn; für sie ist noch kein Nutzungskonzept gefunden. In Braunau lud eine Frau - eine Österreicherin, die für den bayerischen Zoll arbeitet - die Besucher spontan zum Kaffee ein. Sie sagte, dass der Komplex wohl abgerissen wird.

Wenn man in dieser Weise, im Zickzack die Grenze kreuzend, von Kontrollposten zu Kontrollposten fährt, gehen einem unwillkürlich Gedanken durch den Kopf. Die funktionale Architektur mit ihren Scheinwerfern und Schranken, den großen Fenstern und Halterungen für Spiegel und Kameras, all das erinnert den Betrachter an die Macht des Staates. Aber verlassen, wie die Gebäude heute sind, erinnern sie zugleich an deren Vergänglichkeit: War die Grenze der Ort schlechthin, wo der Staat seine Macht demonstrierte, so lässt sich der Verzicht auf diese Demonstration als Zeichen von Entstaatlichung deuten; zumindest zeigen die verlassenen Gebäude, dass sich die Funktion und Bedeutung des Staates gravierend ändert.

Zeichen der Entstaatlichung

Die stillgelegten Kontrollanlagen sind aber nicht nur ideale Anschauungsobjekte für eine Ästhetik des Staates im Übergang zum 21. Jahrhundert. Die Grenze sagt auch viel über Europa und die Wahrnehmung Europas aus. Hatte der Staat an den Grenzen Orte geschaffen, Orte, die vielleicht einschüchterten, aber auch Sicherheit suggerierten und dem Reisenden eine Ortsbestimmung erlaubten - im Sinne von: hier hört das Eigene auf und beginnt das Andere -, stand der Staat also für das Prinzip der Begrenzung und Verortung, so scheint Europa für Entgrenzung und Ortlosigkeit zu stehen. Indem die Grenzen verwischen und zu "Nicht-Orten" werden, löst sich auch das Gefühl des gesicherten Platzes auf, das der Staat vermittelte. An dessen Stelle tritt das Prinzip der unaufhörlichen Bewegung, des grenzenlosen Verkehrs von Menschen und Waren in einem riesigen, kaum überschaubaren Raum.

Schon der Grenzöffnung von 1997 sahen daher viele mit gemischten Gefühlen entgegen. Doch die befürchteten negativen Folgen sind bislang ausgeblieben. Im Gegenteil, wir haben uns die neue Freiheit zu eigen gemacht und kreuzen heute ganz selbstverständlich die Grenzen, als ob da keine wären. Wollte man die Kontrollen wieder einführen, so würden die meisten wohl gegen eine solche Einschränkung ihres Bewegungsspielraums protestieren.

Doch die gewonnene Freiheit wird im öffentlichen Diskurs selten thematisiert. Dafür kommt die Unsicherheit, die wir von der nächsten Grenzöffnung befürchten, umso öfter zur Sprache. Insofern sind die verlassenen Kontrollgebäude auch ein Symbol für die selektive Wahrnehmung Europas. Fixiert auf die zukünftigen Risiken vergessen wir allzu leicht den erreichten Gewinn.

Dass Europa sich so gut als Projektionsfläche für negative Erwartungen eignet, könnte an seiner Ortlosigkeit liegen. Orte wie Schengen oder Brüssel, die man gemeinhin mit Europa assoziiert, sind gleichsam zu abstrakt, als dass man sich unter ihnen etwas vorstellen könnte. Kaum jemand ist dort gewesen. Die Grenze hingegen ist für die meisten Bürger leicht erreichbar. Aber in ihrem jetzigen Zustand nimmt der Besucher sie, wenn er sie überhaupt bemerkt, lediglich als "Nicht-Ort" wahr, an dem sich nur wieder Europas Unbehaustheit manifestiert.

Brenner als Erinnerungsort

Auch der Brenner lief diese Gefahr, ein Ort, der nicht nur den Menschen auf beiden Seiten der österreichisch-italienischen Grenze, sondern allen Reisenden ein Begriff war und der bis vor kurzem derselben Verwahrlosung anheimzufallen drohte, die Bernd Ctortecka an der bayerischen Grenze beobachtet hat. Doch mittlerweile hat sich eine grenzüberschreitende Initiative des Brenners angenommen. Die Ausstellung "[Grenze] Brenner-Pass", die vor kurzem im Archiv für Baukunst in Innsbruck und dann in der Universität Bozen zu sehen war (gleichnamige Begleitpublikation bei Verlagsanstalt Athesia, Bozen), macht die wechselvolle Geschichte dieses viel befahrenen Alpenübergangs anschaulich. Und sie dokumentiert den gegenwärtigen Zustand der Gebäude, die dort im Laufe der Zeit errichtet wurden, vom Lokschuppen des 19. Jahrhunderts bis zur Autobahn-Zollstation der siebziger Jahre. Damit regt sie zugleich an, über die Zukunft des Brenners nachzudenken.

Die Tiroler Initiative ist ein schönes Beispiel, wie aus einer funktionslos gewordenen Kontrollanlage ein Ort der Erinnerung und Reflexion werden könnte. Freilich hat nicht jeder Grenzübergang dasselbe Potential, zur Gedenkstätte zu werden. Dennoch wäre es - mehr als zehn Jahre nach Österreichs Beitritt zum Schengen-Raum - endlich an der Zeit, zur geistigen Inbesitznahme der verlassenen Grenzen zu schreiten, so wie am Brenner geschehen. Es wäre an der Zeit, aus "Nicht-Orten" Erinnerungsorte zu machen.

Der Autor ist freiberuflicher Historiker und Autor.

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