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Der Katastrophe entgegen

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Während Italien und das übrige Europa den „Wirtschaftsflücht-lingen" aus Albanien die Stoptafel zeigen, wandelt das kleine Balkanland haarscharf am Abgrund. Das internationale katholische Hilfswerk „Kirche in Not" hat eine Spendenaktion gestartet. Die FURCHE bringt dazu eine Reportage.

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Während Italien und das übrige Europa den „Wirtschaftsflücht-lingen" aus Albanien die Stoptafel zeigen, wandelt das kleine Balkanland haarscharf am Abgrund. Das internationale katholische Hilfswerk „Kirche in Not" hat eine Spendenaktion gestartet. Die FURCHE bringt dazu eine Reportage.

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Hupend und mit halsbrecherischer Geschwindigkeit rast unser Taxi über die Asphaltpiste, Kühe, Schafe, Ziegen und unzählige Menschen, die zu Fuß unterwegs sind, aus dem Weg jagend. Mit wegwerfender Handbewegung weichen Jugendliche in abgerissenen Kleidern zur Seite.

In weniger als einer Stunde legen wir die 30 Kilometer von Tirana nach Dürres zurück. Immer wieder hupend, schlängelt sich das Taxi zwischen Ochsen- und Pferdefuhrwerken hindurch, überholt Lastwagen sowjetischer Bauart und überfüllte Omnibusse mit zerbrochenen Fensterscheiben. Schließlich kommen wir am weiträumig abgesperrten Hafengelände an, das sich an diesem Tag im Belagerungszustand befindet. „Italienische Botschaft, italienische Botschaft", ruft unser Begleiter den Polizisten zu, die die Zufahrt versperren und uns schnell passieren lassen.

Inmitten der Ruinen von Lagerhallen und Hafengebäuden, auf einem Gelände, das einem Schrottplatz gleicht, lassen wir das Taxi stehen und bahnen uns zu Fuß den Weg zum Kai, wo kurz zuvor die Fähre aus Triest angelegt hatte. Eine Menge von tausend, vielleicht auch zweitausend Menschen hat sich dort zusammengerottet. Junge Miliz-Soldaten, bewaffnet mit Gummiknüppeln, Schutzschilden und uralten Bajonetten, halten die Meute in Schach, die darauf brennt, die Fähre zu stürmen.

Nach einer halben Stunde taucht der 62jährige Pater Zef Simoni aus dem Schiffsrumpf auf, wo er mit der Besatzung der Fähre verhandelt hat. Er ist hier, um ein Fahrzeug abzuholen. In Priestertracht und lächelnd begrüßt uns der kleine Mann. Von den noch knapp 30 überlebenden katholischen Priestern Albaniens ist er einer der jüngsten. Zwölf Jahre Straflager, mehrere Verhaftungen wegen verbotener Ausübung seines Amtes und ein Leben schwersterkörperlicher Arbeit haben ihn gezeichnet.

Wir lassen Pater Zef und unseren italienischen Begleiter am Hafen zurück und begeben uns auf die Suche nach der letzten katholischen Kirche der Stadt. Die Leute auf der Straße, selbst jene mit einem Kreuzchen um den Hals, zucken ratlos die Schultern. Hinter einer verwitterten alten Mauer mit rostigem Gittertor, unter dem sich ein stinkendes Abwasserrinnsal seine Bahn ins sandige Erdreich gegraben hat, finden wir das letzte Relikt der fast zweitausendjährigen christlichen Geschichte von Dürres. Ein winziges Kirchlein mit tiefen Mauerrissen, schadhaftem Dach, zerschlagenen Fenstern und einem Bretterverschlag als Tür.

Hier beginnt unsere traurige Bestandsaufnahme, die uns in den folgenden Tagen noch von Tirana über Lezhains 107 Kilometer nördlich gelegene Shkoder und ins 50 Kilometer südöstlich gelegene Elbasan führen wird.

Noch am selben Abend begegnen wir in Tirana Mutter Teresa. In den vergangenen Monaten hat sie in Albanien drei Niederlassungen ihrer Gemeinschaft eröffnet. Ein Haus in Shkoder, zwei in Tirana, in denen 14 Schwestern und elf Aspirantinnen Tag und Nacht im Einsatz sind. In Shkoder haben sie ein Heim für 40 Kinder geschaffen, die - von ihren Müttern verlassen - in Krankenhäusern dem langsamen Hungertod preisgegeben wurden. Die einen sind körperbehindert, andere schwachsinnig oder so ausgehungert, daß sie völlig apathisch in ihren Gitterbetten liegen. Mutter Teresa plant noch, jeweils ein Haus in Elbasan und eines in Dürres für obdachlose Frauen und unterernährte Kinder zu eröffnen.

Prügeln um Hilfsgüter

Enver Hodscha, der sein Volk im Stile Ceausescus regierte, es aber noch wirksamer terrorisierte, der Albanien völlig isolierte, es mit 600.000 Bunkern zum Schutz gegen den Faschismus pflasterte und sich noch zu Lebzeiten ein Mausoleum in Form einer Pyramide bauen ließ, trieb sein Land schließlich an den Rand des Ruins. Heute ist der überwiegende Teil der arbeitsfähigen Bevölkerung entweder arbeitslos oder unterbeschäftigt. Die wenigen, die Arbeit haben, verdienen in den Fabriken oder landwirtschaftlichen Betrieben im Durchschnitt 600 bis 700 Lek im Monat. Selbst Grundnahrungsmittel sind nur auf dem Schwarzmarkt zu beschaffen, wo ein Kilo Fleisch zwischen 19 und 30 Lek kostet. Aber in den Geschäften der Hauptstadt Tirana gibt es nichts zu kaufen. Die meisten sind ohnehin geschlossen. Eingeschlagene Schaufenster deuten auf Plünderungen hin.

Armut muß man in Albanien nicht lange suchen, sie liegt buchstäblich am Straßenrand. Es sind ausgemergelte Gestalten, halb verhungert, erschöpfte Kinder, nur noch Haut und Knochen. Die Häuser der Schwestern Mutter Teresas in Shkoder und in Tirana werden Tag und Nacht von Menschen belagert. Verzweifelte Mütter mit ihren kranken Kindern, alte Frauen, Männer. Stunde um Stunde harren sie hier in der drückenden Hitze aus, immer in der Hoffnung, daß die Schwestern ihnen helfen werden, sei es mit Medikamenten, Lebensmitteln, Kleidung.

Der Versuch, eine Hilfslieferung mit Kleidung und Medikamenten unter den Wartenden zu verteilen, endete in einer großen Schlägerei. Jetzt suchen sie andere Mittel und Wege, die Hilfsgüter zu verteilen, ohne daß dabei die Empfänger zu Schaden kommen.

Luxus Fahrrad

Am nächsten Tag fahren wir mit einem neuen Landrover nach Shkoder. Das Fahrzeug hat noch kein Nummernschild, da sich niemand findet,

(FURCHE-Graphik Graisy) der weiß, wie und wo man es registrieren lassen muß. In Albanien gab es bisher nur „offizielle" Autos von Parteifunktionären. Privatautos sieht man äußerst selten. Ein Fahrrad, das neu 2.000 Lek kostet, stellt schon einen Luxus dar, den sich kaum einer leisten kann.

In wenigen Tagen sind uns viele Menschen begegnet, die von Familienangehörigen erzählten, denen die Flucht nach Italien oder Deutschland glückte. Diesen Familien geht es besser als den meisten anderen. Würde der Westen alle albanischen Flüchtlinge aufnehmen, bliebe wahrscheinlich kaum jemand freiwillig zurück. Welche Zukunftsperspektiven haben sie auch?

Die wenigen Industrie-Anlagen sind hoffnungslos veraltet und verseuchen die Umwelt. In der Landwirtschaft fehlen moderne Maschinen. Die Felder werden von Hand bestellt und bringen wenig Ertrag. Die Infrastruktur besteht aus einem kaum ausgebauten Straßennetz und einer eingleisigen Bahnlinie von nur wenigen hundert Kilometern. In den Bergregionen sind viele Dörfer nur zu Fuß, mit dem Pferd oder Esel erreichbar. Die Versorgung der Bevölkerung mit lebensnotwendigen Lebensmitteln, Medikamenten und Kleidung ist zusammengebrochen.

Die politische Lage ist nach wie vor ungeklärt. Niemand glaubt, daß sich wirklich etwas ändern wird. Die alten Strukturen bestehen noch immer, und noch immer leben die Menschen mit der Angst. Bis jetzt hat sich fast nichts geändert. Auch die Angestellten im Hotel, wo nur in Dollar gerechnet wird, werden wie früher vom Innenministerium bezahlt. Das Vakuum an Recht und Ordnung, das die Kommunisten hinterlassen haben, schafft Raum für wachsende Kriminalität.

Was die Menschen in dieser Situation am meisten brauchen, sind kaum schöne Worte. Internationale Hilfe ist nötig, um der unaufhaltsam um sich greifenden Katastrophe Einhalt zu gebieten. Diese Hilfe wird auf allen Gebieten dringend gebraucht: in der Wirtschaft, im Erziehungswesen, im sozialen und karitativen Bereich und nicht zuletzt, um die durch 40 Jahre Kommunismus und Terror deformierten Menschen wiederherzustellen.

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