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Warschau — Dezember 1946

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Eine Wüstenei von Trümmern, verkohlten Mauern, hohlen Fenstern und zerborstenen Eisenkonstruktionen, eine monotone Melodie des Krieges und der Zerstörung — das ist Warschau von heute. Sein Anblick entmutigt zahlreiche Polen derart, daß sie an seinem Wiederaufbau nidit mehr glauben und den Vorschlag machen, die Hauptstadt nach Lodz o'er nach Breslau zu verlegen. Trotzdem hat sich die polnische Regierung entschlossen, in der Stadt der grandiosen Ruinenfelder zu bleiben und Warschau wieder zu dem zu machen, was es bis 1939 war: Metropole und Weltstadt zwischen Ost und West.

Selbst der Fremde, der vor dem Kriege jahrelang in Warschau, dieser eigenartigen Mischung von Feudalbarock und Betonhochbau, Luxusquartieren und Elendsvierteln, gelebt hat, kann sich nur mit Mühe in den Straßenzügen zurechtfinden, so gewaltig hat die Kriegsgeißel diese Stadt bis zur Unkennt-lidikeit geschlagen. Sie gehört zu den sdhwerst-getroffenen in ganz Europa. 1939, als sich die Stadt von allen Seiten umschlossen gegen die Kapitulation wehrte, wurden 15 Prozent ihrer Gebäude beschädigt oder vernichtet. 1943 wurde beim Judenaufstand das Ghetto d;m Erdboden gleichgemacht. 1944 brach bei Annäherung der . Roten Armee der große Polenaufstand aus, der blutig niedergeschlagen wurde. Die Polen verloren damals in Warschau allein 150.000 Mann, die zum Teil heute noch unter den Ruinen begraben liegen. Unersetzliche bauliche Kostbarkeiten, wie die berühmte freskenreiche Altstadt mit ihrem Fuggerhaus, das malerisch über dem Strom gelegene Sdiloß, der Sitz des früheren Staatspräsidenten Moscicki, die Sigismund-Säule, die edlen Herrensitze des polnischen Hoch-adels und das Schloß ihn den ehemaligen Pilsudski-Platz und in der Uleja Ujasdoweska liegen zerstört, daß sie kaum wiederherstellbar sein werden. Panikartig verließ die Bevölkerung diese Stadt des Todes, von 1,289.000 Menschen blieben nur mehr 477.000, so daß Warschau heute weniger Einwohner zählt als Lodz mit 497.000 Mensdien.

Wo sollte aber auch die Einwohnerschaft leben? Jeder Fremde wundert sich, wie es in der Stadt verbliebene Menschen aushalten können, praktisch ohne Dach über dem Kopfe meistens in einem Keller hausend, dessen Eingänge mit Teppichen oder Tüchern verhängt sind. In dieser Höhle brennt auf einem roh aus Ziegeln geschichteten Herd das Feuer und eine Holzpritsche mit Stroh oder Lumpen bedeckt stellt das Bett vor. — Einige Glückliche wohnen in Baracken, die ein Blechdach besitzen, am meisten beneidet werden die wenigen Familien, die in einem halbzerstörten Bau ein noch braudibares Zimmer bewohnen und mit Erfolg gegen Neide verteidigen. Und wo wohnt der fremde Gast? Die großen Luxushotels Europe und Bristol stehen nicht mehr, und wenn es gelingt, in einmal verachteten Kleinhotels, wie im P'vlonia oder in solchen der verrufenen Vorstädte unterzukommen, dann lebt der Fremde im Vergleich zur einheimischen Bevölkerung schon wahrhaft fürstlich. Doch sind diese wenigen Herbergen heute von den Diplomaten besetzt, die im gleichen kahlen Zimmer schlafen, essen, ihre Post erledigen und Empfänge veranstalten.

Die einst so glänzende Geschäftsstraße Marszalkowska, die sich vom Bahnhof bis zum Ogrod Saski hinzieht, wo im Frieden ein Juwelier neben dem anderen seine Kostbarkeiten dem Fremden anbot, wo einst Auslagen angefüllt mit Waren von erlesenem Geschmack zum Kauf einluden, ist heute ganz verwandelt. Die Straße ist noch ebenso dicht bevölkert wie einst, aber die Geschäfte amtieren in Baracken, hinter Notverschlägen und in Kellerlöchern. Trotzdem lebt hier der Handel, gespeist aus unerklärlich hintergründigen Quellen; in diesen traurig anmutenden Läden ist jede Ware feil, die das Herz begehrt, herrlicher Schinken, feingewürzte Salate und Mayonnaisen, Semmeln und Kuchen, Butter und Fleisch, Kaffee und Tee; staunend greift man sogar nach Orangen und Bananen, die wahrhaftig nicht in Polen wachsen. Aber auch Photoapparate und Filmgeräte, französische Parfüms und Pariser Kleider neuesten Modells lagern bei den Händlern. Die-Preise sind hoch, phantastisch hoch. Um der arbeitenden Bevölkerung zu helfen, bat die Regierung das Rationierungssystem belassen, das für die wichtigsten Waren sehr niedrige Preise vorsdireibt. Sonst aber ist der Markt sich selbst überlassen.

Auf fast allen Linien verkehrt wieder die Straßenbahn, jedoch muß man sich jeden Platz im Wagen buchstäblich erkämpfen. Einige von“ den Sowjets gespendete Omnibusse fahren durch die Straßen, doch sie bewältigen nicht den Verkehr, weshalb allerlei Fahrmittel, meist Lastautos, in Betrieb gestellt wurden. Die nodi vor Jahresfrist auf Fahr- oder Motorrädern montierten Mietsitze die polnischen Rischkas kommen aus der Mode, weil sie zu langsam sind.

Der Wiederaufbau von Warschau wird auf 25 Jahre berechnet. Gegenwärtig werden leicht- und schwerbeschädigte Gebäude hergestellt. Tausende von Bauarbeitern, die bestbezahlten des Landes, werden von Hdfs-arbeitern aus allen Bevölkerungsschichten und Freiwilligen-Brigaden unterstützt. Selbst die Angestellten der Ministerien sind abwechselnd zum Schutträumen eingesetzt, damit sie ein gutes Beispiel geben. Der Anteil der Frauen an den öffentlichen Arbeiten ist auffallend hoch, sogar als Verkehrspolizisten stellen sie ihren „Mann“, und die Fama behauptet, daß seit ihrem Auftreten die Zahl der Verkehrsunfälle zunimmt. Die Bauleitung der Hauptstadt hat die Absicht, soweit als möglich das alte Bild der Straßenviertel und Plätze mit ihren historischen Linien wieder auferstehen zu lassen. Auch die Altstadt und das Schloß sollen im gleichen Stil rekonstruiert werden. Das erste Großobjekt, das noch im vorigen Tahr in Benützung genommen werden konnte, war die riesige Poniatowski-Brücke von Warschau über die Weichsel nach Praga. Auf ihr führt die für das heutige Polen hochbedeutende Rollbahn nach dem Osten.

Der Winter ist über Warschau schon hereingebrochen. Eisige Stürme, die vom Osten herauf in die Stadt stürzen, fahren durch die Ruinen und gleiten heulend über die Trümmer. Die armen Menschen in den Kellern frieren entsetzlidi. Sechs schwere Winter liegen hinter den Bewohnern Warschaus, der kommende wird nicht der letzte sein. Noch viele wird diese einst schöne Stadt auf sich nehmen müssen, Aber sie hat ein tapferes Herz.

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