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Wahrscheinlich ist jetzt hier tote Saison

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Gelegen an der Nationalstraße 221, auf halbem Weg zwischen Krakau und Kattowitz, an der Abzweigung nach Bielsko-Biala: Oswiecim, heute 15.000 Einwohner, an und für sich eine Durchschnittsstadt der Woiwodschaft Krakau. Rudolf Höss, Lagerkommandant, im Sommer 1941: „Ich habe Auschwitz für die beabsichtigten großen Aktionen gewählt —- einmal wegen der günstigen verkehrstechnischen Lage und zweitens läßt sich das Gebiet leicht absperren und tarnen.“

Man gelangt wirklich leicht hin, auch heute noch. Gleich nach der Ortseinfahrt der erste blaue Wegweiser: „Le Musee d'Auschwitz“ mit einer Flamme und zwei Kreuzen. Auch fallen die großen Speditionen auf, die hier ihren Sitz haben — die Lage scheint also ausnehmend gut zu sein. Den blauen Tafeln „Musee d'Auschwitz“ nach, durch eine düstere Stadt: das Hauptlager liegt am anderen Ende von Oswiecim, in Zasole, einem Vorort.

Vor dem Museum ein riesiger Parkplatz, den sich heute, an einem Samstag, zwei Autos teilen. Auch die PKS (Polnische Autobuslinien) haben hier eine Haltestelle. Wie gesagt, verkehrstechnisch...

Hinein in die „Zentralstelle für Touristenbedienung“ — gleich ein Kiosk mit Zigaretten, Zündhölzern, Museumsführern, Zeitungen und vor allem einfarbigen und bunten Ansichtskarten, Aufnahmen des ganzen Lagers, des Krematoriums, des Mahnmals, der Baracken und auch sonstiger örtlicher Sehenswürdigkeiten. Auch Briefmarken sind da — für Europa? — wer will aus Auschwitz eine Ansichtskarte schreiben? Briefkasten ist jedenfalls vor der Tür.

Gleich gegenüber dem Kiosk hinter einer Tür aus Glas die „Recepcia“ des Hotels (Kategorie II). Es ist also möglich, hier über Nacht zu bleiben. Der Andrang nach 1945 scheint die Erbauung eines Hotels gerade hier notwendig gemacht zu haben, die Lage ist für Erholungssuchende möglicherweise nicht gerade ideal — die Zimmer bieten zwar keinen Blick auf das Lager, aber auch bei einem Hotel am Strand spürt man das Meer, selbst wenn man nicht ein Zimmer mit Meeresblick hat. In der Hotelhalle sitzt ein Tourist und liest den Museumsführer. Die Rezeptionistin liest ebenfalls — aufregend gut dürfte das Hotel nicht gehen —, wahrscheinlich ist jetzt hier tote Saison.

Hinter dem Touristenzentrum führt ein Weg zum Lager. Einige Schritte vor dem Eingang eine Tafel: „Halt! Stoj!“ — früher stand der Stacheldraht unter Hochspannung. Das Stammlager (Auschwitz 1) bestand aus 28 Häusern, sogenannten Blocks, von denen heute zehn zugänglich sind. Die Ausstellungsstücke dürfen nicht berührt werden — alles befindet sich sicherheitshalber hinter Glaswänden. Die Inschriften sind auf Polnisch, Russich, Englisch und Französisch — auf Deutsch sind nur die Originalinschriften und jene unter dem Galgen, auf dem das Todesurteil an Rudolf Höss 1947 vollstreckt wurde. Er war der letzte, der im Lager umgebracht wurde.

Vor ihm sind auf diesem kleinen Fleckchen Erde, laut Feststellung des Internationalen Militärgerichtshofes in Nürnberg, vier Millionen Menschen „ums Leben gekommen“. Ausgestellt sind einige von den 7000 Kilogramm Menschenhaaren, die die Russen bei der Befreiung in Papiersäcken ä 25 Kilogramm vorfanden, bereit zum Abtransport an die Firma Alex Zink, und zur Weiterverarbeitung zu. Ballen — Preis 50 Pfennig pro Kilogramm. Daneben das Modell einer Gaskammer und des Krematoriums ungefähr im Maßstab 1:100 mit geschnitzten Häftlingen zwecks besserer Veranschaulichung des Vorgangs. Im Block 4, 1. Stock, Saal 4 befindet sich eine Büchse Zyklon-B von der Firma DEGESCH (Abkürzung für Deutsche Gesellschaft zur Schädlingsbekämpfung), die einige Jahre lang mit dem Lager große Umsätze machte. Im Keller des Blocks 11 kann man hinter einer Glaswand den Raum, in dem im September 1941 zum erstenmal Giftgas angewendet wurde, sehen; dann einige der übriggebliebenen Goldzähne — die anderen wurden zu Stäben umgeschmolzen und an das SS-Sanitätshauptamt versandt.

Die „Aktion Reinhardt“ betraf die Verteilung der Habe der Angekommenen. Die Uhren gingen an die SSOranienburg, die Brillen: an das Sanitätsamt, Koffer und Rucksäcke an den Kommissar zur Verbreitung des Deutschtums, Hand- und Tischtücher an die Wehrmacht, Kleidung an das Finanzministerium und von da vor allem an die Volksdeutschen des Generalgouvernements. Eine noch nie gekannte Perfektion in der bedingungslosen Verwertung des Menschen. Dann eine Flasche Tinte, Marke Pelikan, mit der den“ Häftlingen die Nummern auf den Unterarm tätowiert wurden.

Auschwitz war zunächst ein Arbeitslager — es wurde von Häftlingen erbaut und erweitert. Häl'tlinge legten das Gelände trocken, erbauten die Gaskammern und das Krematorium und arbeiteten dann auch bei den Verbrennungen mit. Außerdem wurden sie auch in Fabriken eingesetzt — das begründet die starke Industrialisierung rund um das Lager. Die DAW (Deutsche Ausrüstungswerke) und die DESt (Deutsche Erd- und Steinwerke) erfaßten diese billigen Arbeitskräfte als erste und erbauten hier Fabrikanlagen. Himmler wollte nämlich durch den Einsatz von Häftlingen aus den SS-Lagern seiner SS eine führende Rolle auf dem Gebiet der Ausrüstung der Wehrmacht verschaffen. Die Leistungen der Häftlinge betrugen allein im November 1943 537.000 Tagesschichten.

Ansuchen um Zuweisung von Häftlingen waren an das Wirtschaf tsverwaltungshauptamt zu richten. Die Werke wurden dann ermächtigt, Vertreter ins Lager zu entsenden, die dort mit dem jeweüi-i gen Kommandanten geeignete Arbeitskräfte aussuchen konnten. Laut Weisung des WVHA sollte die Arbeit „im wahrsten Sinne des Wortes erschöpfend sein“. Bevorzugtes Werk im WVHA war auf Grund einer Empfehlung von Himmler - der IG-Farbkonzern. Auf dem Gelände -des Lagers Auschwitz III (Monowitz) errichtete die IG ein Werk zur Erzeugung von synthetischem Benzin und Gummi. Der Konzern zahlte an die SS-Standortverwaltung 4 Mark Tageslohn für einen Facharbeiter und 3 Mark für einen Hilfsarbeiter. Die Einnahmen aus dem Verkauf des Gases Zyklon-B flössen ebenfalls in die IG-Kassen, da die Firma „DEGESCH“ zum IG-Konzern gehörte. Allein in Auschwitz wurden von 1941 bis 1944 20.000 Kilogramm Zyklon-B verbraucht (Rechnungen sind ausgestellt), fünf Kilogramm Zyklon-B reichen aus, um 1500 Menschen zu töten. Über dem Lagereingang stand der Spruch: „Arbeit macht frei.“

Menschen aus 28 Nationen waren in diesem Lager — im Block 4 („Vernichtung“) hängen die Fahnen dieser Nationen mit Trauerflor, darunter auch die israelische. Auf enormen Haufen, in gekünstelter UnordJ-nung, liegen Hunderte von Herrenanzügen (von den 348.820, die die Russen noch vorfanden). In einer anderen Vitrine durcheinandergeworfene Damenkleider (von den 836.525, die die SS 1945 aus Zeitmangel nicht mehr verbrennen konnte). Leere Schuhpastedosen, Marke Schmoll, Handcreme, Marke Nivea, Zahnbürsten, Rasierpinsel — diese Menschen wußten bis zuletzt nicht, wohin sie gingen; sie brachten Küchengeschirr, Teppiche, Pelze mit. Ein Schaufenster ist mit Bergen von Brillen angefüllt. Ein anderes mit Arm- und Beinprothesen. Man muß daran denken, daß solche Prothesen in genauer Arbeit nach vielen Proben an einen Menschen angepaßt wurden — ebenso all die Pelzmäntel, ob sie nun damals ihrer Trägerin gut paßten oder nicht, ob sie gut geschnitten waren oder nicht — das alles spielte hier keine Rolle mehr.

Im Block 27 ist die Ausstellung „Martyrium der Juden“ untergebracht. Allerdings ist der Block ohne Begründung geschlossen worden. Auf dem Häftlingskrankenhaus und dem Schonungsblock sind noch die Originalschriften „Zutritt strengstens verboten“ zu lesen. Sie sind auch heute noch nicht zugänglich. Desgleichen der Block 10 des Doktor Clauberg, wo an der Entwicklung einer schnellen Methode zur Sterilisierung („biologische Ausrottung“) der Slawen gearbeitet wurde. Vorbei am Theatergebäude und an einer enormen Photographie des Häftlingsorchesters, das für hohe SS-Chargen spielte.

Vor der ehemaligen Lagerküche (heute sind dort Tischler mit Kon-seryierungsarbeiten beschäftigt), steht ein Sammelgalgen. Leicht erhöht steht hinter dem Lager das Krematorium, erbaut von der Firma Topf & Söhne, Erfurt. Wie die Wohnblocks, hatten auch die Vernichtungsanlagen auftragsgemäß von außen „ein unschuldiges Aussehen“ zu haben.

Im Krematorium stehen zwei zigarettenrauchende Polen, die die Nasen in die Öfen stecken, um den technischen Verlauf der Vernichtung besser zu begreifen.

Ob es sinnvoll ist, Auschwitz wie das Schlafzimmer des Kaisers Franz Joseph in Schönbrunn herzuzeigen?

Wir verlassen das Lager. 1941 hatte der Lagerführer zu einem Transport von 700 Polen gesagt, daß sie hier in ein Konzentrationslager gekommen seien, aus dem es keinen anderen Ausgang gebe als die Schornsteine des Krematoriums.

Im Touristenzentrum ist ein Kino eingerichtet, das einen 23 Minuten langen Dokumentarfilm über das Museum zeigt. (Ob Museum auch auf polnisch etwas mit Musen zu tun hat?)

Ob es möglich sei, diesen Film zu sehen?

Die Billeteurin: „Wir spielen nur für Gruppen. Es müssen mindestens 40 Leute sein. Aber um 14 Uhr kommt eine Gruppe von Österreichern, da können Sie auch kommen. Gehen Sie halt einen Kaffee trinken. Oder waren Sie schon in Birkenau

— nein? — Na, dann fahren Sie nach Birkenau, es sind nur vier Kilometer, und um 14 Uhr müjjeen Sie wieder hier sein.“

Wir haben einen Kaffee getrunken. Die Gastwirtschaft ist ein Selbstbedienungsrestaurant. Die Speisen sind auf einer langen Theke angeordnet und an ihrem Ende befindet sich die Kassa. Die Kellnerinnen tragen rote Kleider mit weißen Tupfen. In riesigen Töpfen gibt es zwei zur Auswahl stehende Menüs

— möglich, daß die Arbeiter der naheliegenden Fabriken hierher essen kommen. Daß die wenigen Museumsbesucher die enormen Mengen an Essen benötigen könnten, ist unwahrscheinlich — die frische Luft macht hier keinen Appetit...

Es gibt Stätten, die man sich bei anderem Wetter als Nebel und grauem Himmel gar nicht vorstellen kann.

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