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Die Vitalitat unter Schutt

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Genau betrachtet, existierte die Hauptstadt Polens nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Warschau wurde nicht durch Kriegsereignisse zerstört, sondern sie wurde nach dem Volksaufstand vom 1. August 1944 durch nazistische Sprengkommandos regelrecht ausradiert.Und was ist heute, dreißig Jahre danach, aus dieser Stadt geworden?

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Genau betrachtet, existierte die Hauptstadt Polens nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Warschau wurde nicht durch Kriegsereignisse zerstört, sondern sie wurde nach dem Volksaufstand vom 1. August 1944 durch nazistische Sprengkommandos regelrecht ausradiert.Und was ist heute, dreißig Jahre danach, aus dieser Stadt geworden?

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Der Besucher, welcher sie nun wiedersieht, glaubt zu träumen. Es ist einfach unfaßbar... am linken Ufer der Weichsel steht wie eh und je die vorzüglich komponierte Silhouette der historischen Altstadt, so wie sie Canaletto malte, rechts des Flusses erheben sich gegen den blauen Himmel moderne Hochhäuser der Vorstadt Praga — beides entstanden und erbaut in den letzten drei Jahrzehnten.

Warschau, Symbol der Selbstbehauptung und der enormen Lebenskraft des polnischen Volkes, ist wieder auferstanden. Der Wiederaufbau geschah mit bewundernswerter Unbekümmertheit und intuitiver Weitsicht und in dem unerschütterlichen Glauben, daß sich die lebenswichtigen Urbanen Elemente dem wiederaufgebauten Zentrum anpassen und unterordnen würden.

Man begann mit dem Wiederaufbau Warschaus sofort nach der Befreiung, also nach dem 17. Jänner 1945. Zwei wichtige Entscheidungen, die damals getroffen wurden, sollten die zukünftigen Geschicke der Stadt beeinflussen: der Beschluß der polnischen Regierung, daß Warschau trotz der enormen Zerstörungen weiterhin die Hauptstadt Polens bleiben solle — und der spontane Wille der Einwohner, unverzüglich nach Warschau zurückzukehren. Dies löste einen allgemeinen Enthusiasmus bei der Bevölkerung aus und bestärkte die Ausdauer bei der Übernahme oft übermenschlicher Aufgaben. Denn Warschau lebte damals inmitten von Trümmern nur noch in Kellern und Kanälen. Die die Stadt bedeckende Schutthalde betrug rund 20 Millionen Kubikmeter, und in diesem Schutt steckten über hunderttausend Minen.

Neue Wohnsiedlungen sind damals im Einklang mit der alten Struktur vom Zentrum aus — strahlenförmig angeordnet — entstanden, während die Industrieanlagen im Weichbild der Stadt placiert wurden.

Doch die Altstadt von Warschau (Stare Miasto) baute man unbeirrt und genau so auf, wie sie einst gewesen war. Modern zu bauen wäre billiger und auch praktischer gewesen, doch die Polen wollten ein Stück ihrer Tradition zurückhaben, ein Stück Selbstbehauptung auch unter dem neuen Regime. Den Auftakt bildete die Neuaufstellung der Sigismundsäule (Kolumna Zygmunta III.) auf dem noch völlig leeren Schloßplatz. Es war dies die erste architek-tonisch-urbane Tat im Nachkriegs-Warschau. Seither rekonstruierte und renovierte man nach vorhandenen Plänen, alten Zeichnungen, Bildern, Stichen und Photographien, und dies stets mit enormer Pietät gegenüber der Tradition. Im Laufe der Jahre entstanden die einzelnen Häuser der Altstadt wieder, die Kirchen, die Paläste, die ehemaligen, neuentdeckten Befestigungsmauern samt Barbakan und Torturm und zuletzt das königliche Schloß, von welchem ..nur spärliche Fragmente erhalten geblieben waren. Das königliche Schloß, das wohl wertvollste Baudenkmal Warschaus, das auf Befehl Hitlers zerstört wurde, weil er es als „Symbol des Polentums“ empfand, soll nun zum Denkmal der Geschichte und der Nationalen Kultur werden.

Warschau besaß vor dem Zweiten Weltkrieg 912 historische Bauten, von denen 852 total und 60 zum Teil zerstört wurden. Davon wurden bisher 666 wieder aufgebaut, nämlich 465 historische Wohnhäuser und Gebäude, 56 Kirchen, Klöster und sonstige sakrale Bauwerke und 81 öffentliche Gebäude von historischem Wert. Heute dienen sie bereits wieder ihrem ursprünglichen Zweck oder beherbergen Institutionen, Ministerien, Hochschulen, Bibliotheken usw.

Die überaus gelungene Rekonstruktion des Ensembles der gesamten Altstadt, des historischen Königstraktes (Krakowskie Przed-miescie, Nowy Swiat und Aleje Ujazdowskie), des Belvedere-Schlos-ses, der Palast-Parkkomplexe von Wilanöw und Lazienki sowie des Königsschlosses (das im Rohbau schon 1974 fertiggestellt wurde und dessen Innenausstattung bis 1980 fertig sein soll) sind Ereignisse von Weltrang, sind eine kulturpolitische und denkmalpflegerische Leistung Polens, die bisher noch von keiner Nation der Welt in solch gewaltigen Dimensionen erbracht worden ist

Demnächst wird in der Volkshalle des Wiener Rathauses eine Ausstellung „Warschau XXX“ — im Beisein des Präsidenten der Stadt Warschau und des Bürgermeisters von Wien eröffnet. Sie will an Hand von ausgesuchtem Bildmaterial, Karten, Plänen, Modellen und Statistiken der österreichischen Bevölkerung Geschichte und Entwicklung der vielgeprüften Hauptstadt Polens vor Augen führen und mit den unvergleichlichen, einmaligen Leistungen des Wiederaufbaus bekannt machen. Sie zeigt den dornenvollen und zugleich glorreichen Aufstieg und Wiederaufbau der Stadt aus Schutt und Asche zu einer blühenden, modernen, traditionsbewußten Metropole.

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