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Kein Vertrauen in die Zukunft

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Die Zahl der KSZE-Staaten ist wieder 35. Nach der Vereinigung der beiden Deutschländer kehrte vergangene Woche Albanien in den Schoß Europas zurück. Der Aufnahme des Landes in die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa muß jetzt die innere Umgestaltung des seinerzeitigen Gefängnisses folgen.

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Die Zahl der KSZE-Staaten ist wieder 35. Nach der Vereinigung der beiden Deutschländer kehrte vergangene Woche Albanien in den Schoß Europas zurück. Der Aufnahme des Landes in die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa muß jetzt die innere Umgestaltung des seinerzeitigen Gefängnisses folgen.

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Heikel ist in Albanien noch immer die Frage, wer die Schuldigen der Massendeportationen, der Inhaftierung Andersdenkender und der politischen Gefangenen sind. Auf dem vor kurzem zu Ende gegangenen Parteitag der albanischen KP, die sich nun in Sozialistische Partei umbenannte, sprach es der neue Vorsitzende Fatos Nano offen aus: Mindestens 300.000 Albaner wurden in den Jahren der kommunistischen Herrschaft Opfer von Willkürhandlungen der Behörden. Doch als der neue Vorsitzende des Schriftstellerverbandes Dritero Agolli Nanos Ausführungen aufgriff und Namen zu nennen begann, da „entstand tumultartige Unruhe im Kongreßsaal", wie im Protokoll festgehalten wurde.

Der Reformkommun ist wagte dann, den Genossen zuzurufen: „Wir alle wissen, wer Enver Hodscha widersprach, der verschwand im Gefängnis, im Lager oder kam sogarzuTode." Noch, wollte er hinzufügen, selbst nach dem Tod des stalinistischen Staatsgründers 1985, selbst noch im Vorjahr, gab es den Gulag, aber so weit kam Agolli nicht. Reihenweise erhoben sich die Parteifreunde und schier endlos hallte es: „Die Partei lebt - Enver, wir sind mit dir, wir sind bereit." Man brüllte die Vergangenheit nieder.

Aber auch dann, wenn man sie im heutigen Albanien zu bewältigen sucht, begegnet man ihren Schatten. Zeitgleich zum Wende-Parteitag der Genossen bildete sich ja auch in Tirana das erste Mehrparteienkabinett seit mehr als 40 Jahren, verabschiedete die neue „Übergangsregierung der nationalen Errettung" eine neue Verfassung. Als Abkehr von der bisher stalinistischen feiern sie dieeinheimi-schen Medien. Die seinerzeit verbotene Religionsausübung ist neu verankert, auch zahlreiche Bürgerrechte, der Verzicht einer Partei aufs Macht-monopol, Neuregelung der Eigentumsverhältnisse und eine Ausrichtung auf die Marktwirtschaft, wie man dies von westlichen Demokratien kennt.

Doch auch Schönheitsfehler sind unübersehbar. So heißt es beispielsweise im Artikel 50 der neuen Verfassung, daß die Wahl des Wohnsitzes im Inland gesellschaftliche Interessen nicht beeinträchtigen darf. In der alten Verfassung lautete der gleiche Artikel, die Interessen der Partei dürften bei der Freizügigkeit nicht beeinträchtigt werden, und in der Praxis hieß das, daß die Partei festlegte, wo man zu leben und zu arbeiten hatte.

Weiterhin Internierungen

Glaubt man dem „Komitee für Menschen- und Bürgerrechte" in Tirana, so soll im Alltag noch immer die alte Einschränkung Realität sein. Selbst die Verbannung unliebsamer Personen käme in ländlichen Gebieten in diesen Tagen noch immer unverändert zur Anwendung. Rechtsgrundlagen dafür bieten die Artikel 56 und 65 der neuen Verfassung, in denen es heißt: „Die Intemierung und Verbannung Krimineller als vorbeugende Maßnahme bleibt bestehen."

Einer dieser Verbannungsorte ist Gradishte. Ein Ort, den man auch heute auf keiner Landkarte, keinem Postleitzahlverzeichnis findet. Eine Siedlung der Ausgestoßenen. In diesem albanischen Nirgendwo - von den Bewohnern „Käfig" genannt - leben derzeit mehr als 500 Menschen, aus politischen Gründen inhaftierte „Sippenhäftlinge". Gradishte besteht noch immer. Geändert hat sich nur, daß die Verbannten erstmals in den heimischen Medien ihre Leidensgeschichte erzählen können.

So die Schwiegertochter jenes Emigranten Ibrahim Dosti, der zwischen 1949 und 1956 aus dem italienischen Exil herauseine „antikommunistische Widerstandsbewegung" führte. Die alte Frau: „Meine ganze Familie wurde als Geisel genommen, wir wurden wie Tiere im Käfig gehalten." Noch immer haust man in einer erbärmlichen Lehmhütte. Zehn Personen teilen sich ein Schlafzimmer, eine Küche - ohne Licht, Heizung und Wasser. Seit kurzem besitzen sie ein Radiogerät, vor wenigen Wochen wurden die hohen Wachtürme, die Stacheldrahtverhaue und Minenfelder ums Lager abgebaut. Einen Arzt hat man freilich bis heute nicht zu Gesicht bekommen. Hat man den Eltern früher ihre Kinder weggenommen, arbeiten die Jugendlichen jetzt auf den umliegenden Kolchosen für 40 Lek im Monat, während Gleichaltrige 500 Lek nach Hause bringen, womit man sich mittlerweile gerade noch satt essen kann, falls man in Geschäften Lebensmittel ergattert.

„Von Freiheit ist nichts zu spüren." Mit dieser Kritik meldete sich neulich Hyrie Kupi in einer kurzen Sendung des staatlichen Fernsehens zu Wort. Dies ließ aufhorchen. Denn die Großfamilie des Familienältesten Hyrie sind die letzten Verwandten jenes antifaschistischen Widerstandskämpfers Abaz Kupi, der zuerst gegen die faschistischen Okkupatoren während des Zweiten Weltkrieges eine Partisanenformation anführte, sich aber später mit Enver Hodscha überwarf und liquidiert wurde.

Hyrie Kupi: „War die Vergangenheit schon schrecklich, fehlt uns jede Zukunft." Noch immer sei Gradishte ein „Käfig", eine Adresse der Angst. Mißtrauen begegne jedem von ihnen, die Bauern der Gegend wollten mit ihnen nichts zu tun haben, man verweigere ihnen jede Arbeit in den Betrieben.

Die Mühlen der Bürokratie mahlen langsam. Nicht nur in Gradishte, auch in anderen ländlichen Gebieten besitzen die Menschen noch keinen Personalausweis. Und ohne diesen ist nach wie vor selbst eine Reise in die nächstgelegene Provinzstadt nur mit Sondergenehmigung erlaubt.

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