Der Grenzfall Europas

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Mit Skepsis und Unbehagen blicken viele dem Auftritt des türkischen Premiers in Wien entgegen. Dahinter stehen jede Menge seit langem ungelöster Fragen.

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Mit Skepsis und Unbehagen blicken viele dem Auftritt des türkischen Premiers in Wien entgegen. Dahinter stehen jede Menge seit langem ungelöster Fragen.

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Der Wien-Besuch des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdo gan am Donnerstag dieser Woche rückt hierzulande wieder einmal schlagartig die alte Frage nach dem Verhältnis Europas zur Türkei und damit jene nach den Grenzen Europas in den Blickpunkt. Sichtbar wird dabei vor allem eine große Ratlosigkeit. Selbst ein normalerweise nicht auf den Mund gefallener Routinier wie Armin Wolf wirkte angesichts der innertürkischen Debatte, die da gerade bei ihm im-Studio ablief, etwas, pardon, "schmähstad".

Die ZIB 2-Diskussion zwischen dem grünen "Enfant terrible"-Bundesrat und Erdogan-Kritiker Efgani Dönmez sowie Abdurrahman Karayazili, Präsident der Union der Europäischen Türkischen Demokraten (UETD), zu deren Jubiläum Erdogan anreist, machte jedenfalls eines deutlich: Wie wenig wir von diesem riesigen Land zwischen Europa und Asien wissen, wie wenig wir letztlich verstehen - und welch gigantische Herausforderung, beileibe nicht nur im Ökonomischen, eine Ausgestaltung der Beziehungen zur Türkei mit Augenmaß bedeutet.

Kampfbegriff "Assimilation"

Zum Augenmaß gehören ganz sicher klare Worte zu gegebenem Anlass. In diesem Sinne kann man Außenminister Sebastian Kurz gar nicht genug dafür loben, dass er im Vorfeld des Erdogan-Besuchs in ganz untypisch österreichischer Manier die entscheidenden Punkte unumwunden angesprochen hat: Der Premier müsse seine Landsleute zur Integration aufrufen, eine "falsche Rede" könne "das Klima vergiften" und würde "nicht nur unserer Mehrheitsbevölkerung, sondern vor allem auch türkischen Einwanderern" schaden. Kurz' Sorge kam nicht von ungefähr. In Erinnerung ist noch Erdogans Auftritt 2010 in Köln, als er Assimiliation als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" bezeichnet hatte. Vier Jahre später, im Mai dieses Jahres, wiederum in der Domstadt am Rhein, gab er sich moderater in der Wortwahl, warnte aber gleichwohl vor "Zugeständnissen" und plädierte für eine "Integration ohne Assimilation".

Das mag für viele vernünftig klingen. Indes hat es den Anschein, dass "Assimilation" als negativer Kampfbegriff immer dann zum Einsatz kommt, wenn man Vorbehalte gegen Integration bemänteln will. Ginge es nur um die Kritik an völliger Nivellierung, liefe diese ins Leere - denn auch die angestammte Bevölkerung eines Landes ist nie homogen. Gelingende Integration aber bedeutet immer auch Assimilation - welche ihrerseits ja Angleichung, Anpassung und eben nicht Gleichmacherei meint (lat. similis = ähnlich). Demnach sind integrierte Zuwanderer immer Österreicher, Franzosen, Amerikaner - oder sie sind eben nicht integriert. Und deswegen war es auch richtig und wichtig, dass Kurz gesagt hat: "Man kann stolz auf seine Wurzeln und sein neues Land sein. Österreicher türkischer Herkunft sind keine Fremdkörper, sie sind Österreicher."

Maturafach türkisch

Aus der eben skizzierten Perspektive ist im Übrigen nichts dagegen einzuwenden, Türkisch als zweite lebende Fremdsprache und damit auch als potenzielles Maturafach einzuführen. Fatal wäre nur, wenn damit das Signal verbunden würde, man könne sich auf diesem Umweg das Erlernen von Deutsch ersparen. Das kann nicht funktionieren -so wie niemand auf die Idee käme, er könne im angelsächsischen oder frankophonen Raum bestehen, ohne des Englischen oder Französischen mächtig zu sein.

Die Frage ist freilich nur ein Detail im schwierigen Gesamtkomplex. Wäre die Türkei ein "ganz normaler" Partner, dürfte es Besuche wie den bevorstehenden gar nicht geben - dann käme der Premier ganz einfach zu einem Arbeits- oder Staatsbesuch nach Wien. Die Schwierigkeiten gelten auch für Europa als Ganzes. Nur eine Union, die im Kern stark und ihrer selbst gewiss wäre, hätte die Kraft, an ihren Grenzen glaubwürdig und entschlossen zu agieren. Davon sind wir freilich weit entfernt.

rudolf.mitloehner@furche.at

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