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Menderes’ gewagtes Spiel

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Anläßlich der Wiener Messe ersuchte einer der vielen Besucher des türkischen Pavillons um Auskunft. Er wurde von einem europäisch gekleideten Herrn an türkischen Teppichen und künstlerischen Photographien vorbei in einen kleinen Nebenraum gebeten. „Ja, bitte?"

Er wolle einige Informationen hinsichtlich der politischen und wirtschaftlichen Lage, sagte der Besucher. Und er bekam sie auch; „Wir besitzen eine moderne Demokratie, in welcher jeder das Recht hat, seiner Meinung Ausdruck zu geben. Seit Atatürk" — ein Blick an die Wand, wo ein Bild des großen Reformators hing, ergänzte das Wort — „hat das ganze Land einen großen Aufschwung genommen und sich dem modernen Leben anzuschließen gesucht."

Das wisse er, sagte der Besucher. Aber Atatürk sei lange tot. Wie es denn um die Gegenwart bestellt sei?

Ein erstauntes Hinaufziehen der Augenbrauen, begleitet von einem ebenso höflichen wie mißverstehenden Lächeln; „Wir sind eine westliche Demokratie. Wenn wir jetzt beispielsweise, um auf den wirtschaftlichen Sektor zu kommen, keine englischen Stoffe haben, so liegt das daran, daß wir eigene besitzen. Das politische wie das wirtschaftliche Leben verlaufen vollkommen normal."

Eine Weile lang hörte der Besucher zu, wie der gebildete junge Türke ihm Auskunft gab. Vor dem Weggehen aber sprach er ihn nochmals an, diesmal aber Türkisch: „Afedersiniz efendim — entschuldigen Sie vielmals, ich kenne die Türkei aus eigener Anschauung sehr gut und wollte nur wissen, ob Ihre Auskunft mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Denn die ist ja leider anders.“

Einen Augenblick nur schien der Türke unsicher zu werden, dann lobte er das gute Türkisch des Besuchers und bot ihm Zigaretten an. („Wenn ich Ihnen die ganze Schachtel zum Andenken mitgeben darf...") Der Rest war Höflichkeit und Konversation.

Djeseii Yorfall Jkasn.mir io. den Sinn,.,ab ich in der Presse von jener Konferenz, las, die unter dem Titel „Kongreß der freien Presse“ auf den Brettern einer propagandistischen Schaubühne zu Berlin in Szene gesetzt wurde. Unter anderem berichtete auch ein türkischer Sprecher — neben Delegierten der Südafrikanischen Union, Ceylons, Singapores und der Deutschen Bundesrepublik — über die Bedrohung der Pressefreiheit durch politische Parteien oder Gesetze. Aber wenn er der Wahrheit gemäß auf die innertürkischen Verhältnisse eingegangen wäre, dann hätte er nicht mehr in seine Heimat zurückkehren können. Als einzige Möglichkeit wäre dann nur gewesen, das Asylrecht in Anspruch zu nehmen.

Seit einiger Zeit findet man in der türkischen Presse eine interessante Sparte, gleichsam eine fixe Rubrik mit einem klischierten Titel: „Der gestrige Presseprozeß." An die zwanzig Journalisten sehen gegenwärtig die Welt nur durch die Raster eines Gefängnisfensters und warten auf ihre Verurteilung, während etwa ein Dutzend neu verhaftet wurde.

Seltsamerweise betrachtet die westliche Welt den gegenwärtigen Ministerpräsidenten Menderes als den wahren und akzeptablen Exponenten der modernen Türkei. Geschickt hat er es verstanden, jedesmal im rechten Augenblick nach Westen freundlich zu lächeln, während er seinem eigenen Lande ein gänzlich anderes Gesicht zuwandte. Seine Fähigkeiten sollen ebensowenig bestritten werden wie seine persönliche Integrität an allen Dingen, die Geld betreffen — von dem er selbst als millionenschwerer Großgrundbesitzer mehr besitzt, als er und seine Nachfahren verzehren können. Doch sagt man ihm nach, daß er seine persönliche „Sauberkeit" eben dazu benützt, seine Umgebung, die weniger vermögend und auch weit weniger geschickt in ihren finanziellen Gebarungen (soll heißen: „Nebeneinkünften“) ist, stets im rechten Moment unter Druck zu setzen, da er der Mann ist, „der alles von jedem weiß“.

Bis zu einem gewissen Grad — wie weit, wird sich erst in den kommenden Jahrzehnten heraussteilen — erliegt Adnan Menderes auch jenem geschichtlichen Gesetz, das in der älteren griechischen Geschichte aus einem Befreier von Unfreiheit einen Herrscher werden ließ, der den ursprünglich völlig neutralen Begriff „tyrannos" in die uns heute geläufige Form goß. Als im Jahre 1950 der junge oppositionelle Politiker Menderes mit erdrückender Mehrheit gewählt wurde, trug ihn das allgemeine Ja eines Vol kes, das der Einparteiendiktatur Ismet Inönüs müde geworden war. Ein frischer Wind wehte durch das ganze Land und ließ für die Zukunft Besseres erwarten, als die jüngste Vergangenheit gebracht hatte. Als die Allgemeinheit endlich bemerkte, daß man es vor Tische anders gelesen hatte, war es bereits zu spät: der ehrgeizige, freiheitshungrige Politiker war der Machtfülle, die sich in ihm verkörperte, erlegen.

Leistet sich die Geschichte manchmal Hintertreppenwitze? Fast möchte man es glauben, wenn man bedenkt, daß Ismet Pascha (Inönü) gerade durch jenes Wahlgesetz gestürzt wurde, welches er seinerzeit zum Schutze seiner eigenen Macht durchgebracht hatte. Daß Inönü sich noch vor wenig mehr als einem Jahrzehnt fast genau in der gleichen Rolle präsentierte, die Adnan bey (Menderes) jetzt über die Bretter gehen läßt, da er — allerdings mit weit größerer Härte und Skrupellosigkeit — seine eigene Position halten will. Heute befindet sich Inönü genau in der gleichen Situation des freiheitsliebenden Oppositionspolitikers, die er in der Gestalt seines Gegners Menderes damals bekämpfte — es ist, als ob die Kämpfer von einst nach der Halbzeit die Plätze gewechselt hätten.

Heute zitiert die Presse immer wieder jene Aussprüche Adnan beys, die er gegen das damalige Regime gerichtet hatte und ihn nun selbst treffen. Heute hat er die Vergangenheit vergessen — während sein alter Gegner Inönü aus ihr gelernt hat.

Außerdem lag die Situation damals — im Jahre 1938, als Atatürk starb — wesentlich anders. Mustafa Kernai Atatürk hatte aus dem Nichts eine neue Türkei geschaffen, deren Regime er demokratisch nannte, ein Wort, das einzig und allein aus dem Gegensatz zum gestürzten Regime des Padischah seine Berechtigung ableitete, ohne seinen wahren Sinn zunächst noch erfüllen zu können. Ismet Inönü hatte zugleich mit dem vngeheuren Erbe auch die Aufgabe übernommen, langsamer Bahnbrecher einer echteren Demokratisierung des Landes zu sein. Heute kann man ihm leicht den 'Vwwtfrf' fna&eö; fer Tfei žū' lan'l m lfl seinem Vörgfehen gewesen, den Ast, auf dem er selbst saß, abzusägen, doch wird der Vorwurf fast hinfällig, wenn man bedenkt, daß fast während seiner ganzen Regierungszeit die Welt in Flammen stand und er sich der Tatsache bewußt sein mußte, daß außer ihm schwerlich jemand anderer imstande war, die Türkei aus dem Strudel des zweiten Weltkrieges herauszuhalten.

Ein Ismet Inönü heute weiß es bereits, daß selbst in einem geistig und wirtschaftlich unterentwickelten Lande ein gerüttelt Maß von Freiheit nötig ist, selbst wenn die Stimme des Volkes einmal die eigenen Hoffnungen und Wünsche zunichte machen sollte.

Es ist seltsam, daß gerade er als der große alte Mann der neuen Türkei zu dieser Erkenntnis gekommen ist.

Adnan bey aber hetzt seine Fanatiker gegen alles, was ihm zuwider läuft. Er läßt Richter und Staatsanwälte pensionieren, wenn sie seinen Wünschen entgegenhandeln, gesteht der Presse trotz wiederholter Zusicherungen nicht das Recht auf Führung eines Wahrheitsbeweises zu und verhängt Nachrichtensperren über alle Ereignisse, die ihm irgendwie unwillkommen sind.

Wenn in den vergangenen Tagen die Opposition wegen der Treibjagd gegen Ismet Inönü den Parlamentssitzungen fernblieb und 170 Sitze leerblieben, dann vermag die Weltöffentlichkeit vielleicht darüber hinweggetäuscht zu werden, zumal man im kalten Krieg bei Bundesgenossen mancherlei übersehen muß — die Türken aber wissen Bescheid. Sie wissen, daß der greise Ismet Inönü am 1. Mai in der Stadt Uschak fast zu Tode gehetzt worden wäre, und weder die lokalen Sicherheitsbehörden noch auch die Zentralstellen in Ankara Miene machten, einzuschreiten. Es ist schwer zu entscheiden, ob es Menderes tatsächlich gelungen ist, die „spontane Kundgebung" von Leuten, die man eigens per Lastauto herbeigebracht hatte, so genau zu dosieren, daß nichts Schlimmeres geschah, oder aber ob nur die überragende Persönlichkeit Ismet Paschas es bewirkte, daß sich der drohende Haufen von Männern, die sich ihm in den Weg gestellt hatten, vor dem einstigen General zurückwichen, der ihre Väter zum Siege geführt hatte und nun waffenlos und ruhigen Schrittes auf sie zukam. „Der Freiheit eine Gasse." Da traf ihn ein Stein am Kopf, so daß er zu Boden stürzte. Aber er stand wieder auf, um seinen einsamen Weg fortzusetzen. Hoffentlich vermag er ihn bis zum Ende zu gehen.

Adnan Menderes aber führt inzwischen seinen Balanceakt als Wanderer auf dem Drahtseil zwischen orientalischer Despotie und west licteC DeJnofeait Je weiter durchs fr spjęlt, ein gewagtes Spiel.

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